INVENTIONEN'86


PIERRE SCHAEFFER:

Ausschnitt aus einem Interview von Michael Kurtz

" … Kommen wir nun zu den Computern. Wissen Sie, mit den Computern ist es schrecklich, denn sie können alles, vorausgesetzt, man gibt ihnen die richtigen Anweisungen. Mit einem Plattenspieler oder einem Tonband kann man notfalls noch herumbasteln, aber einem Computer muss man präzise sagen, was er tun soll. Der Computer ist also auf Musiker angewiesen, die sich in der Musik gen au auskennen und wissen, was sie wollen; es wird einer sehr langen Auseinandersetzung bedürfen, bis die Leute endlich einsehen werden, dass die Computer, weit entfernt, ihnen die musikalische Forschung abzunehmen, sie vielmehr zwingen werden, alles selbst zu machen. Am Ende ist es vielleicht gerade dieses Paradox, durch das die Computer die Musiker zur Schaffung eines neuen musikalischen Alphabets und zur Erfindung einer neuen Klangsprache nötigen werden.

Doch lassen wir diese verheißungsvolle Zukunftsperspektive auf sich beruhen - ihr stehen ohnehin genügend weniger erfreuliche Aussichten entgegen: die Entwicklung von Synthesizern und Automaten, von Maschinen also, die die musikalische Komposition mehr und mehr automatisieren werden. Die Leute suchen ja nach solchen Erleichterungen, und jedermann ist scharf auf diese Apparate, auf die kleinen automatischen Synthesizer, die die Musik selbst machen.

Aber wenden wir uns anderen Maschinen zu, denn diese ganze Entwicklung hat ihren Ursprung nicht umsonst in dem riesenhaften technischen Apparat von Radio und Fernsehen - sprechen wir also von den modernen Kommunikationsmedien. Was glauben Sie: sind diese Medien wie Radio und Fernsehen entwickelt worden, damit die Menschen miteinander kommunizieren, oder war es eher so, dass man diese Maschinen eben zunächst einmal erfunden hat und dass sich die Gesellschaft ihnen dann gegenübersah, ohne recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte? Anders gefragt: haben die Menschen Radio und Fernsehen gewollt, oder sind es Radio und Fernsehen, die die Gesellschaft "wollen" und auf sie angewiesen sind? Offensichtlich gilt das letztere. Denn es liegt klar zutage, dass die Riesenapparate der zeitgenössischen Systeme aus Anwendungen der Wissenschaft hervorgegangen sind; sie haben sich in der Gesellschaft ausgebreitet, und die Gesellschaft musste sehen, wie sie mit ihnen zurechtkam: auf jeden Fall haben diese Maschinen das Antlitz der Gesellschaft vollständig verändert, sei es zum Besseren oder zum Schlimmeren. Dem Anschein nach leben wir ja heute in einer Gesellschaft der ins Unermessliche gesteigerten Kommunikation, aber in Wahrheit bleibt diese Kommunikation sehr oberflächlich, steht der Überzahl der Informationen nur sehr wenig wirklich nützliche Information gegenüber, ist das Abstimmungs- und Verständigungsniveau außerordentlich niedrig. Bemerkenswerterweise haben wir in denselben fünfzig Jahren, in denen diese modernen Systeme der Massenkommunikation entstanden und sich entwickelten, überall zugleich eine Konzentration der politischen Macht erlebt. Die Demokratie unserer Großväter, die Parlamente und Demokratien am Ausgang des neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren noch Institutionen mit einem hohen Maß an Abstimmung. Sie wissen selbst, wie sehr sich das heute geändert hat: heute ist, egal in welchem Regierungssystem, die Macht konzentriert. Wir haben einen amerikanischen Präsidenten, einen obersten Sowjet, einen französischen Präsidenten, und ausgerechnet im Zeitalter der Massenmedien und der weltweit verbreiteten Kommunikationstechniken ist die Erwartung so stark wie nie zuvor, ein einzelner Mensch müsse auf einem kleinen Bildschirm erscheinen und bestimmen, wo es lang geht - da haben Sie die ganze Paradoxie, ich glaube, es gibt kein besseres Beispiel. Nicht zufällig ist ja der amerikanische Präsident ein ehemaliger Schauspieler, und auch bei uns hat man eine Zeitlang damit gerechnet, Yves Montand werde als Herausforderer von Monsieur Mitterand antreten; das liegt alles auf der gleichen Linie, passt haargenau in das Schema. Bei uns hat das eine Gruppe, die sich die 'Situationisten' nannte und an den Ereignissen von 1968 beteiligt war, analysiert, eine Bewegung, die ihr Zentrum, glaube ich, in Straßburg hat - sie haben in einer sehr überzeugenden soziologischen Analyse die Gesellschaft als eine "Schauspielergesellschaft" (soctete du spectacle) entlarvt. Das ist eine Gesellschaft, die zu kommunizieren glaubt, aber in Wirklichkeit nur einem theatralischen Exhibitionismus huldigt, so dass die Entscheidungen nicht durch einen kleinen Kreis von verantwortlichen Entscheidungsträgern gefällt, sondern wie Theaterstücke inszeniert und durch die Guckkastenbühne des Fernsehens frei Haus geliefert werden.

Um also auf Ihre Frage zurückzukommen und den zentralen Gedanken noch einmal zu formulieren: Anders als der Mensch selbst glaubt, sind die Maschinen nicht für ihn da, sondern er für sie: der Mensch ist für die Maschinen da. Der Ausbau der Industrie bewirkt eine stetige Perfektionierung der Maschinen, und für den Menschen bleibt immer weniger Arbeit übrig. Auch die Arbeitslosigkeit erscheint damit als eine zwangsläufige Konsequenz der technologischen Entwicklung.

Das sind die Paradoxien der gegenwärtigen Gesellschaft, und dieselben Paradoxien prägen auch das Bild der zeitgenössischen Musik. Anstatt daher das Hohelied der Maschinen zu singen, sollte man erkennen, dass die Musik auf eine spektakuläre und symptomatische Weise genau dieselbe Krise durchläuft wie die Gesellschaft im ganzen. Die entscheidende Frage ist also, ob nach einer Periode der Maschinengläubigkeit und der Maschinenherrschaft die Gesellschaft in der Lage sein wird, im Sinne eines wohlverstandenen Humanismus den Maschinen ihren Platz anzuweisen, oder ob wir endgültig zu Opfern unserer Maschinen werden sollen. Ganz gewiss haben wir keine sehr tröstliche Musik zu erwarten. Sie fragen mich, ob ich Hoffnung in die Musik setze. Was kann man aber von einer Musik erwarten, die sich in einem solchen Grad an die Maschinen ausgeliefert hat, die auf so singuläre Weise die Herrschaft der Maschinen und insbesondere die atomare Herrschaft reflektiert? Wir leben in einer Zivilisation, die die Macht des Atoms entdeckt hat - zu ihrem größten Nutzen (denn wir erhalten die Energie, die wir benötigen) und zu ihrem größten Schaden (denn wir können mit unseren Bomben den ganzen Planeten vernichten).

Wir befinden uns also in einem instabilen Gleichgewichtszustand, mit einer militärischen Bewaffnung, die im Verhältnis zur weltweiten sozialen Organisation völlig überzogen erscheint. Im Grunde sind wir in der Lage von Affen, die das Maschinengewehr erfunden haben. Oft denke ich, dass die Musiker Affen sind, die mit klingenden Instrumenten hantieren und dabei vollkommen vergessen haben, dass es der Zweck dieser Instrumente war, Musik zu erzeugen, d, h. Augenblicke der Meditation und des versunkenen Hörens zu schaffen, in denen sich der Mensch durchdrungen fühlt von jener Klangsprache, die man Musik nennt und die die Wortsprache transzendiert; von dieser Sprache haben wir Kunde aus den großen Momenten der Musik, aus den großen Momenten des achtzehnten Jahrhunderts: ihr Gipfel ist unbestreitbar Johann Sebastian Bach. Solange die Musik eine solche Funktion nicht wieder zu erfüllen vermag, und sei es in noch so bescheidenem Ausmaß, solange sehe ich nicht, wozu sie nützen und was man von ihr erwarten könnte …"

Aus:
Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 33, Januar 1986

 


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