INVENTIONEN'86


CLAUS-HENNING BACHMANN:
Medien und Musik - Eine Schwarzmalerei

Fragmentarischer Versuch, einige Spiele zu verstehen

Der Kulturkritiker, der seiner Profession mit Konsequenz nachgeht, gelangt heute unweigerlich an den Punkt, wo er im Begriff ist, sich den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Jede Art von Kulturkritik, von der die Kunstkritik ein Teil ist, muss zwangsläufig an ihr Fundament stoßen, die Daten der Vermittlung, und sie wird nicht umhin können, das kritische Instrumentarium auch auf diese Voraussetzungen ihres eigenen Tuns, das heißt auf die Vermittlungswege anzuwenden. Im Zeitalter der potentiell allumfassenden Information - ich spreche nicht von technischen Problemen, die sämtlich überwindbar sind, von Wahrnehmungsschranken, von politischer Informationslenkung - rücken die Vermittlung und das zu Vermittelnde ganz eng zusammen. Überspitzt gesagt: Die Inhalte verfügen über die Wege der medialen Aufbereitung, einschließlich jener, die sich konventionell Kunstkritik nennt, aber eine Reihe anderer Funktionen mit sich führt, die mit Kritik wenig zu tun haben - Funktionen der Werbung für künstlerische Produkte oder künstlerisch Tätige, des Status, den ein gedrucktes oder elektronisches Medium sich geben möchte, der Pädagogik, der Unterhaltung und so fort; dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Symbolisch wird die Übereinstimmung von Vermittlung und zu Vermittelndem im elektronischen Bereich, und zwar bei den Extremen der Avantgardekunst ftn1 und der Show. In dem einen Fall sind die Apparate identisch, in dem anderen wäre das Sprechen über die Sache purer Nonsens: Sie plappert sich selber aus und ans Ende der in ihr angelegten Nichtigkeiten; gäbe es einerseits die elektronische Musik nicht ohne das Medium Rundfunk, so gewinnen andererseits Quiz, Ratespiele, Talk-Shows und ähnliches nur dadurch einen "Sinn," dass sie gesendet werden.

Eine banale Ausgangsposition: Kunst, die sich mitteilen will, die sich an Aufnehmende wendet, braucht die Medien. Zwischen den Medien und der Kunst besteht ein Arbeitsbündnis. Zwischen der elektronischen Musik, mit oder ohne Hilfe des Instruments Computer hergestellt, und den elektronischen Medien sollte das Bündnis besonders intensiv sein; Konzerte mit elektronischer Musik sind immer auch Medien-Ereignisse. Aber die Medien beschäftigen sich überwiegend mit dem, was sie gar nicht vermitteln können: Sie zerstückeln Instrumentalmusik, Musik in geschlossenen Formen für geschlossene Räume, zu musikalisch unterlegten Bildern, also zu etwas Diffusem, eingegrenzt durch das musikfremde Wahrnehmungsfeld des Bildschirms; sie reduzieren theatralische Schauspiele auf Segmente, in denen das Spiel, die Eroberung des Raumes, gleichsam gefroren ist. Die Sprache der Künste wird stumm gemacht durch eine Sprache aus zweiter Hand, banalisierende Sprache; die Künste werden mundtot gemacht. Eine banale Gegenposition : Die Medien bestimmen, was wert ist, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Sie setzen die Normen. Sie nennen Kunst, was einzelne für Kunst halten. Durch die diffus massenmediale Streuung wird die Nennung zum Gesetz. Das Gesetz bestimmt die Auswahl: So entsteht ein Wert, der ursprünglich keiner war, sondern nur ein Vorschlag, eine Äußerung, eine Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, eine Ader zu legen, eine Schneise zu schlagen ins Chaos des noch Ungemachten. Die Kunst ist den Medien ausgeliefert.

Das Thema verlangt nüchterne Sinne, einen klaren Kopf. Doch ist es schwer, kühl zu bleiben angesichts der Bankrotterklärung des Jahrtausends, das sich der Übermacht der Apparate beugt, die Menschen automatisiert mehr und mehr, die Ungerechtigkeiten zementiert. Das meiste zum Thema ist schon gedacht und schon ausgesprochen. Und muss immer wieder gedacht und weitergedacht und aufs Neue ausgesprochen werden, denn das falsche Bewusstsein ist zäh. Unsere Rede ist artspezifisch. Ohne die Rede vergäßen wir, wie Schweigen wäre. Reden kann Leben retten. In diesem Text, ging mir beim Exposé durch den Kopf, wird die "Schwarzwaldklinik" nicht vorkommen. Damit ist sie bereits vorgekommen. Ein Bild für die Unausweichlichkeit des Banalen? Wir können es negieren. Wir können uns verweigern. Wir können es steigern bis zum Paroxysmus, wie es in den fünfziger Jahren die damals "absurd" genannten Dramatiker versucht haben. Aber wir können es nicht aus der Welt schaffen. Ich lese, dass die "Schwarzwaldklinik" im Studio Hamburg produziert wird - und ich schäme mich für meine Heimatstadt, in der auch Springer, Bauer, Gruner + Jahr und andere ihre teils dummdreisten, teils bornierten, teils alibi-kritischen Elaborate produzieren und die dadurch zur "führenden Medienstadt" avancierte, fast möchte ich sagen: sich prostituierte, aber womit hätten die ohne Schönfärberei Verträge einhaltenden Huren die dauernde Beschimpfung verdient. Kann oder muss ich mich schämen für etwas, das eine Einschaltquote von 68 % hat, das also Zweidrittel aller Bundesdeutschen zumindest für sehenswert halten? Die lange Zeit beiseite gelegte Frage des Elitären kommt wieder ins Spiel. Vielleicht war die ganze Polemik gegen das "Elitäre" - an der ich mich, womöglich aus schlechtem Gewissen, beteiligt habeungenaues Denken. Schließlich sprechen wir, wenn wir im politischen oder sozialen Feld Minderheiten ohne Einschränkung für schützenswert halten, auch nicht von "elitärer Gesinnung". Fast immer haben Minderheiten den Weltlauf bestimmt, im Keim selbst bei gesellschaftsverändernden Revolutionen. Die Minderheiten können Herrschende werden und andere Minderheiten unterdrücken. Die kleine Zahl ist nicht von vornherein gut. Dies ist ein "elitärer" Text ohne Herrschaftsanspruch.

Es gibt bei vielen Phänomenen eine falsche oder doch nicht unbedenkliche Evidenz. Neil Postmans Buchtitel, nach dem wir uns (via Fernsehen) "zu Tode amüsieren", gehört dazu. Die falsche Evidenz, das Einleuchtende journalistisch "griffiger" Beispiele, die Bedienung der Medien im gewünschten Sinn der "Verständlichkeit" (ohne zusätzlich gefordertes Denken, Differenzieren, ohne das Risiko der Verunsicherung): all das hat zur Folge, dass das als richtig Erkannte und sogar richtig Vermittelte ad acta gelegt und damit unwirksam gemacht wird. Eine Lehre, die allgemein anerkannt ist, verkommt in Handbibliotheken; eine wissenschaftliche Erkenntnis oder ein Gebäude von Erkenntnissen, die jedermann einleuchten, wird zum "Bildungsgut"; eine Avantgarde, die etabliert ist, ist keine Avantgarde mehr. Zu den Zeugnissen falscher Evidenz gehören die vornehmlich von provinziellen Leitartiklern in selbstgefälligen Kommentaren "durchschaubar gemachten Zusammenhänge". Die professionellen Durchschauer leben davon, dass die anderen, ihre Leser/Hörer, vermeintlich nicht durchschauen können. Es gibt nichts Unerträglicheres als eine "Presseschau ", Samuel Beckett hat immer wieder auf das Undurchschaubare zwischen Leben und Tod rekurriert, niemals Kommentare zu seinen Stücken und Texten gegeben (und auf Kommentare wie Adornos "Versuch, das Endspiel zu verstehen", höchst verwundert reagiert), in seinen Inszenierungen eigener Stücke jeden Ansatz zur "Erklärung" gemieden: Er ist der größte Realist. Die falsche Evidenz der Zusammenhänge spiegelt sich in der abendländischen Musikgeschichte wider, in der "streng logischen" Funktionalität, in dem Zwang zur "Auflösung" (dem heute nur noch das Schlagergewerbe nachfolgt) ebenso wie in der Orthodoxie seriellen Denkens, die freilich ein kurzlebiger Ausnahmefall blieb. Zusammenhänge führen ein Scheinhaftes mit sich. Scheinhaften Produkten haftet das Beliebige an. Sie sind in großer Zahl herstellbar. Deshalb werden sie mit Zeichen der Kreativität verwechselt. Das Unzusammenhängende wäre demnach eine Wahrheit und kreativ, wäre das Lebendige? Soeben - an diesem 24. Januar 1986 - wird bekannt, dass Joseph Beuys gestorben ist.

Ich soll über Kunst und Medien schreiben, und einige Stunden habe ich nun damit verbracht; nach Monaten des Nachdenkens, Nachlesens, Wieder-Verwerfens und Beiseitelegens. Wie entgehe ich der scheinhaften Argumentation? Mir fällt die Geschichte von dem Professor ein, die mir ein Psychoanalytiker erzählt hat. Der Professor war ein hochgerühmter Mann, und er hatte jahrelang aufsehenerregende wissenschaftliche Werke geschrieben, mit vielen Fußnoten und langen Literatur-Verweisen. Irgendwann kamen ihm Zweifel an der Schlüssigkeit des Gelesenen und daraus Entwickelten, an der Haltbarkeit der Lehrgebäude, an denen er mit gebaut hat. Man verlangte immer mehr von ihm an Äußerungen, Stellungnahmen, Kommentaren, wissenschaftlichen Aufsätzen, und eines Tages versiegte ihm der Gedankenfluss. Die verpassten Ablieferungstermine drohten sich zur Katastrophe auszuweiten. Schließlich sperrte man den armen Mann in ein Zimmer, gab ihm ein paar Bücher mit - nur wenige und nur solche, die er schon kannte -, versorgte ihn mit Nahrungsmitteln und vielen Bogen weißen Papiers. Am Abend hoffte man, wenn schon nicht den überfälligen Artikel, so doch wesentliche Ansätze und ausgeführte Gedankengänge vorzufinden. Man fand nach zwölf Stunden auf einem weißen Blatt ein einziges Wort: "Zwar" …

Nicht alles, was richtig erscheint und einen Zusammenhang hat, muss unter das Verdikt der falschen Evidenz fallen. Es gibt fließende Übergänge. Es gibt Befunde, die im Moment richtig sind und durch häufige Nennung falsch werden - oder nach einer gewissen Zeit, in einem anderen Kontext des weitergegangenen Lebens und Denkens, falsch geworden sind. Die neuere Musikgeschichte kennt eine Fülle von Beispielen antiquierter Modernität; dazu ist allerdings nachdrücklich anzumerken, dass es zu den Spezialitäten der "Postmoderne" (Achtung: falsche Evidenz eines Begriffs!) gehört, Werke, die von den meisten noch gar nicht "verstanden" wurden, mit denen sich noch kaum jemand auseinander gesetzt hat, in der Schublade der "überholten Moderne" abzulegen, um die Eigenleistung der rezipierenden Mitarbeit daran ein für allemal verweigern zu können, des Beifalls der "Menge" gewiss. Zu dem, was festzustellen zur Stunde richtig, aber in seiner einleuchtenden Begrifflichkeit unablässig neu zu befragen ist, gehört die jüngst in Varianten oft zu vernehmende Digitalisierung des Bewusstseins; vor einigen Tagen begegnete ich in dem kulturkritischen Artikel eines Schweizer Lehrers der "Digitalisierung unserer Sinnlichkeit" f2 , einer Analyse, die in dem besagten Aufsatz anschließt an Walter Benjamin und dessen Sicht auf die zwanziger Jahre. Die Großstadt sei "das Medium, das die herkömmliche analoge Erfahrung der Welt durch eine stoß- und schockartige, eben digitale, ersetzt. Was bislang als kontinuierlicher Vorgang erlebt wurde, wird jetzt in kleine Einzelschritte oder Intervalle zerlegt." Was hat es mit dieser Bewusstseins-Veränderung auf sich?

Ich beziehe mich zunächst auf die Meinung eines komponierenden Musikers, der auch Mitbegründer und Leiter der Schweizerischen Gesellschaft für Computermusik ist, Bruno Spoerri. Er hat sich auf einer Tagung der Stiftung "Pro Helvetia" mit dem Thema "Computer und Kultur" Anfang November 1985 auf Schloss Lenzburg geäußert. Seine Haltung bezeichnete er selber als "zwiespältig, unentschlossen, die Haltung eines praktischen Musikers, der mit dem Stand der heute zugänglichen Technik im Musikbereich konfrontiert ist, davon fasziniert ist und gleichzeitig immer wieder extremes Unbehagen dabei verspürt". Signale dieses Unbehagens: Die Zahl der Musiker wächst, die in ihren Produkten "versuchen, wie ihre Maschinen zu klingen", das heißt wie die vorgefertigten Elemente aus diesen Maschinen. Zu bestehen gilt es "einen täglichen Kampf mit der Logik des Computers - vielmehr: mit dem Programmierer, der sich die Schemata der Computerlogik aufzwingen ließ". Diesen Einwand wird mancher Komponist so nicht gelten lassen. Er kann sich sein Programm selber schreiben, er kann die Verfügung über das Gewollte in allen strukturellen Details behalten. Aber das kostet Zeit und Energie, auf Kosten des Komponierens im bisherigen Verständnis; einer meinte, er habe nach dem Codieren keine Lust mehr, mit dem Programm zu arbeiten. Das Programm ist nicht die Komposition und zugleich ein Raster für viele Kompositionen: das ist seine Macht; ihr zu entgehen und damit dem Trauma des "Ausgeliefertseins", ist eine - häufig gescheute - Aufgabe kompositorischer Intransigenz. f3 An den Grund dieser Scheu rühren Warnzeichen, wie sie von Günther Anders, Joseph Weizenbaum, Walter Volpert und Bernd Mahr gesetzt wurden; Bruno Spoerri zitierte Mahr aus dem "Kursbuch" (Jg. 1984): Es geht da um die Frage, "ob der Computer die Funktionen unseres menschlichen Denkens übernehmen kann". Das führt zu der anderen Frage, ob wir nicht "dem Computer schon so weit entgegengekommen sind", dass unsere Denkleistungen "fraglos auch zu möglichen Leistungen eines Computers geworden sind. Ob wir uns also in unserer Auffassung von uns selbst dem Computer schon ähnlich gemacht haben."

Oft genug erscheint in solchen Bildern der Computer als das unausweichliche Gespenst, das umgeht in der Welt; unausweichlich ist der Rechner in der Tat, aber doch wohl nicht als der Teufel, der von unserem Leben Besitz ergreift, ohne dass wir uns wehren können. Eine Art von Gegenwehr, so paradox das klingen mag, ist der Umgang mit dem Computer - freilich ein bewusster Umgang, nicht der eines "zwanghaften Programmierers" oder "Hackers" (Weizenbaum gibt in seinem Buch über "Die Macht des Computer und die Ohnmacht der Vernunft" - Frankfurt am Main 1977 - eine anschauliche Symptombeschreibung dieser Zwangs- und Suchtkrankheit, ein glaubwürdiges Horrorbild der Selbstzerstörung). Eine prononcierte Möglichkeit selbstbewusster Aneignung der Rechenautomaten ist ihre Zweckentfremdung zur Herstellung ästhetischer Produkte. Hier sei ein kleiner Exkurs erlaubt. Er heftet sich an die Zwecke und die Zwecklosigkeit von Kunst. Sie ist zwar nicht identisch mit dem Schönen, aber doch ein mögliches Modell dafür, ungeachtet der Erwägung, ob ein Kunstprodukt dem einzelnen als schön erscheint. (Ich höre momentan "nebenher" die Aufnahme des "Tristan" unter Furtwängler, eine Musik, die wohl fast ausnahmslos mit dem Beiwort schön assoziiert wird. Mir drängt sie, Strafe fürs Unangemessene meiner Wahrnehmung, derart erschreckend ans Ohr, dass ich nicht weiß, wie lange ich den akustischen Stachel in meinem Denken noch ertragen kann.) Kant definierte als schön, was interesseloses Wohlgefallen weckt, und das bedeutet nicht mehr, als dass das Schöne - so kommentierte Hegel in seiner "Ästhetik" die Kantische Idee - weder Neugier wecken, noch sinnliches Bedürfnis sein, noch eine Begierde des Besitzes und Gebrauchs auslösen soll. Der Kantische Gedanke einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck steht in enger Verbindung mit dem von Hegel so heftig abgewerteten Naturschönen, wobei Kant ein teleologisches - zweckhaftes - Modell im Auge hatte, freilich, so der Philosoph Rüdiger Bubner in einem Gespräch mit dem Autor f4 , "nicht die Teleologie der technischen Verwaltung der Natur durch den Menschen, sondern eine innere Zweckhaftigkeit einer vernünftig geordneten Natur, also die Natur, .die selber zweckhaft ist. Kunst hat, gehalten gegen dieses Modell, eine analoge Struktur, insofern auch das Kunstprodukt zweckhaft zu sein scheint, nur kann man nie sagen, was sein Zweck ist." Heute wendet sich gegen die "selber zweckhafte Natur" der Mythos technischer Rationalität als einer "fortschreitenden" Naturbeherrschung, ein aus durchsichtigem Kapitalinteresse ins Werk gesetzter Mythos, der die in Wahrheit fortschreitende, Naturzerstörung - eine Zerstörung auch der Natur des Menschen - kaum noch verhüllt. Dagegen erhebt sich die Zweckentfremdung der Apparate als eine zweckhafte, sinnhafte, leugnend den perversen Gebrauch von Sinn durch die professionell optimistischen Macher.

Adorno hat - gegen Hegel - erkannt, dass die Dissonanz "im Naturschönen ihre Stätte hat", wie er in der "Ästhetischen Theorie" schreibt f5 . Das "unbestimmte" und "unbestimmbare" Naturschöne vergleicht er mit der Musik: "Wie in Musik blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen." f6 Aber bei der "Aporie des Naturschönen" und, über sie hinaus, der "von Ästhetik insgesamt" lässt sich heute nicht verharren. Im Denken und Komponieren von Helmut Lachenmann ist die Suche nach Schönheit zentral, eine Suche, die durch das "Angst-Erlebnis des Schönen" hindurchgehen musste und heute in die - mit der lähmenden Drohung der Unlösbarkeit behaftete - Frage mündet:
"Wie lässt sich Sprachlosigkeit überwinden, eine Sprachlosigkeit, die kompliziert wird durch jene falsche Sprachfertigkeit des ästhetischen Apparates, wie sie uns im Wust der losgelassenen Medien und kulturellen Betriebsamkeit vorgegaukelt wird"? f7 , aber ebenso gegen das Lähmende unlösbarer Fragen steht die Utopie der Kunst, eine Utopie gegen den Tod. Noch immer tönt Wagners "Tristan". Ich höre den dritten Akt.

In der durch Rechenautomaten und elektronische Simulation entwirklichten Wirklichkeit erleiden wir den symbolischen Tod. Das ist nicht übertrieben. Wenn ich als Nicht-Fachmann die Situation richtig beurteile, hat sich seit den klassischen Tagen der Spieltheorie beziehungsweise der Simulation strategischer Spiele Erhebliches geändert; die Simulation hat gleichsam ihren Spielcharakter aufgegeben und Wirklichkeitscharakter angenommen. Nicht nur treten Simulationsspiele an die Stelle eindimensionaler Videospiele, die Simulation von Fahrverhalten, Raumflug-Situationen bis hin zur Nachbildung tiefgreifender ökonomischer Prozesse gehört vielmehr der alltäglichen "Lebensbewältigung" an. Ich frage mich bei solchen Berichten immer, inwieweit es nicht nur um Erkenntnisgewinn geht, sondern implizit auch um Vorwegnahmen und damit um den Gebrauch von Machtmitteln. Vom "Imperialismus der 'Künstlichen Intelligenz '" spricht der Psychologe Walter Volpert in einem ungemein engagierten, durchaus nicht resignativen, aber unterschwellig von Trauer über das vermutlich Unabänderliche durchzogenen Buch. f8 Sicher haben die begeisterten Fürsprecher der artificial intelligence etwas zurückstecken müssen. Dennoch ist es leichtfertig, sich post festum über den kybernetischen Zoo lustig zu machen, über die Shannonsche Maus, die englische Schildkröte und den französischen Fuchs. Als Vorstellung hat der intelligente Roboter unser Leben bereits verändert, schon damit, dass man dem Automaten überhaupt den lebendigen Faktor der Intelligenz zuschrieb. Im Sprachgebrauch, von dem ich mich selber (anno 1972/73) nicht ausnehme, zeigt sich das Phänomen sehr deutlich. Alle Spezialisten sagten damals, es ginge um das Erkennen menschlicher Denkprozesse. Das heißt aber im Grunde nichts anderes, als dass die Maschinen denken und auch handeln können wie Menschen. Volpert weist darauf hin; wie er denn überhaupt auf die verräterischen Begriffe im Umgang mit Computern aufmerksam macht, das angebliche "Erkennen", "Analysieren" und "Lernen" des Rechners.

Mit alldem ist die Maschine bereits an die Stelle des Menschen getreten; sie hat sein Denken, Fühlen und Handeln okkupiert. Das Bedenkliche daran ist, dass es sich um einen weitgehend unbewussten Vorgang handelt. Der "Hacker" der alten Art, wie er von Weizenbaum beschrieben wurde, sagt Volpert, war sozusagen ein "Elite-Neurotiker". Bei der Sucht des Video-Spielers ("Automatenzocker"), eines seiner Leidenschaft ausgelieferten Zwangskranken, hätten wir es mit weiter Verbreitung zu tun, einer "Volkskrankheit". Dergleichen Süchte machen sich die Mächtigen zunutze. In den USA werden Forschungszentren, die an der Entwicklung "denkender" Maschinen arbeiten, nicht zuletzt vom Pentagon, dem Verteidigungsministerium finanziert. Die "Frankfurter Rundschau" vom 16. März 1983 verbreitete einen Ausspruch von Ronald Reagan: "Ich habe kürzlich etwas Interessantes über Video-Spiele gehört. Viele junge Leute haben eine unglaubliche Geschicklichkeit in der Koordinierung von Hand, Auge und Hirn bei diesen Spielen entwickelt. Die Air-Force glaubt, dass diese Kinder außergewöhnlich gute Piloten sein werden, wenn sie einmal unsere Jets fliegen" (zitiert nach einem Vortragstext von Walter Volpert). Vielleicht im Kriegsfall auch außergewöhnlich skrupellose … Wenn Maschinen wie Menschen funktionieren, dann funktionieren Menschen auch wie Maschinen. Der symbolische Tod wird zum Tötungsakt. Damit konform geht ein Verlust an Körperlichkeit, den ich in den Körperkulten, in den neuen Psychotherapien, die um das Erleben von Körperlichkeit zentriert sind, eher angezeigt denn kompensiert finde. Krankheit als Sonderfall menschlicher Existenz bringt Verdrängtes ins Bewusstsein: die Körper-Sprache. Vielleicht ist die Schildkröte ELSIE ("electro light sensitive with internal and external stability") inzwischen krank geworden, denn ich habe lange nichts mehr von ihr gehört. Wahrscheinlicher freilich ist, dass die Krankheit der Gesellschaft (was diese Art von Fortschritt angeht: in beiden Machtblöcken) mittlerweile ein komaähnliches Stadium erreicht hat.

Die Informationsästhetik erscheint demgegenüber wie ein Ablenkungsmanöver, wenn ich an den Zufallsgenerator der Computergraphiker denke und an die guten alten Markoff-Ketten, den integrierten Zufall in einer begrenzten Kette vorhandener Zeichen. Die Schattengefechte um den mathematischen Nachweis der Bedingungen, die darüber entscheiden, wann ein Kunstwerk Kunstwerk genannt werden darf, boten aber auch einen Einstiegsbegriff zur Rechtfertigung der Simulation, eine Art Zauberwort: Kreativität. Der wohl bekannteste Informationsästhetiker, ja der eigentliche Begründer der Anwendung von Informationstheorie auf die ästhetische Wahrnehmung, Abraham A. Moles (Straßburg), sprach von "schöpferischen Methoden": Er meinte damit die Nutzung der "Maschinen-Kapazität" zur beschleunigten "Neuordnung der Welt", "und zwar durch eine Reihe beschreibbarer Prozesse von gewisser Komplexität" f9 . "Die Kreativitäts-Sackgasse" hingegen lautet eine Kapitel-Überschrift bei Volpert, und einem - von der Werbung der Schallplattenkonzerne verbreiteten - "Mythos der Kreativität" sieht sich der u, a. auch mit dem Computer arbeitende Musiker Bruno Spoerri gegenüber. Eines seiner Beispiele auf Schloss Lenzburg:

"Die aus technischen Gründen eingeführte rhythmische Quantisierung bei Rhythmusmaschinen hatte verheerende Folgen für die Musik: in der Rhythmik scheinen Werte, die kleiner sind als 1/16-Note, auszusterben." Kreativität ist auch ein Mythos in der Reklame für obskure Psychotherapien und in der politischen Unkultur, die soziale Rechte abbaut und alle Verantwortung dem einzelnen zuweist, dessen Individualität sie zugleich aufs Spiel setzt: Soziale Netze, in denen die Persönlichkeit Stützung erfährt, werden durch eine technische Vernetzung "ersetzt". f10 In der Folge solcher Verschleierungen wird immer dann von Kreativität geredet, wenn es um sie besonders schlecht bestellt ist, nicht zuletzt in der ästhetischen Produktion. Psychosoziale und ästhetische Sachverhalte gehen Hand in Hand, die Kreativen formieren sich gegen Ende des Jahrtausends zu einem trauervollen Zug und setzen ihr Keep-smiling auf:

"Dem herrschenden Bewusstsein einer Epoche, in der die 'Kreativität' wieder aus allen Löchern quillt, weil, wie schon Karl Kraus ahnte, 'die Menschheit sich an ihrer Henkersmahlzeit gar nicht sattfressen kann', ist schwer zu vermitteln, dass der Rang von Kunstwerken sich eher dem Gegenteil verdankt: der selbstkritischen Instanz im Künstler, dem Filter der Negativität, das jeder Einfall, jeder eruptive Impuls, jede Konstruktion im dialektischen Prozess ihrer Hervorbringung, soll sie Bestand haben, passieren muss, der zersetzenden, autodestruktiven Kraft des Urteils. Es ist eine Paradoxie und mag ein Verhängnis sein, dass just das, was einzig Qualität und Authentizität ästhetischer Produkte verbürgt, sich zuinnerst gegen die Produktivität richtet." (Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, die beiden Herausgeber der "Musik-Konzepte" f11 ) In der scheinhaften ästhetischen Produktivität, dem uneingestandenen Widerruf der musikalischen Avantgarde, spiegelt sich kraft geheimer Anpassung der Fetisch gesellschaftlicher Produktionssteigerung mit verborgenen Allmachtsphantasien. "Der Psycho-Kult wird zur Pufferzone zwischen persönlichen Hoffnungen und abweisendem Gesellschaftsprozess, zwischen alter Moral, die mit der sozio-ökonomischen Entwicklung nicht Schritt hält, und einer Produktionsdynamik, die ihre destruktiven Allmachtswünsche dem Zugriff der Vernunft entzieht. Private Größenbilder und technisch-ökonomische Omnipotenzphantasien gehen ein sonderbar verschwiegenes Bündnis regressiver Welterfahrung ein." (Jörg Bopp f12 ) Die "autodestruktive Kraft des Urteils", jener negative Filter, und die hinter der unaufhaltsamen Produktionsdynamik verborgene Destruktivität sind in der Tat zwei Aspekte desselben Sachverhalts:
Hier sondert sie kritisch aus, richtet sich aber gegen den Hervorbringer und kann sein Schweigen zur Folge haben; dort kaschiert sie in dem "sonderbar verschwiegenen Bündnis" den politisch-gesellschaftlichen Frust: Beziehungsarbeit "ersetzt" die Berufsarbeit, "die Therapie wird zum seelischen Wartestand" (Bopp). Das Warten auf Godot ist lustvoll dagegen. Das Auf-der-Stelle-Treten im Psycho-Kult ähnelt der Selbstfesselung des Professors, der als einziges das Wort "zwar" auf den weißen Bogen setzte und damit das in Frage stellte, was er noch gar nicht geschrieben hatte und niemals schreiben wird.

Alles ist schon gesagt: Kunst widerspricht dieser Einsicht, widerspricht dem weißen Blatt, - wie mein Denken der Vorstellung widerspricht, alles notwendige Wissen sei schon parat, - wie ich bei wirklich ernsten Themen wie diesem immer noch meine alte mechanische Schreibmaschine der elektrischen mit dem leichten Anschlag, gar erst der Tastatur mit Bildschirm vorziehe, denn sie leistet meiner Berührung Widerstand, setzt meine haptischen Erfahrungen nicht außer Kraft. Genauso leistet die Kunst Widerstand, bewahrt sie uns vor der Auslieferung an die Digitalisierung des Bewusstseins, hält sie Verweigerungspotentiale bereit, sind Verweigerungsstrategien in sie eingegangen: unserer menschlichen Intelligenz, unserer sinnlichen Hardware. Natürlich vermittelt die Kunst auch zwischen einer unbekannten, immer neu zu schaffenden, zu verwerfenden, experimentell zu wagenden Ordnung und einem lustvoll-vernichtenden Chaos; darin ist sie selber Medium. Die Medien hingegen sind, vom einträglichen Geschäft einmal abgesehen, auf Ordnung hin angelegt, zumindest ihrem Selbstverständnis nach. In Wahrheit zählen sie zur "Bewusstseinsindustrie", um einen Ausdruck von Hans Magnus Enzensberger (aus dem Jahre 1964) aufzugreifen, produzieren sie tendenziell den bloßen Schein von Wirklichkeit. Der öffentlich-rechtliche Status verleiht ihnen zwar die Würde eines demokratischen Korrektivs, aber wahrgenommen wird diese Funktion nicht von den Institutionen und ihren Gremien, sondern immer nur von einzelnen, und auf sie trifft dasselbe zu wie auf die Kunst und die Künstler: Sie leisten Widerstand, und oft richten sie ihn gegen sich selbst.

Mit dem Begriff der "Bewusstseinsindustrie" korrelieren andere Benennungen, die scheinbar näherliegen : "Kulturindustrie" und "Informationsindustrie". Der Begriff "Kulturindustrie" geht im wesentlichen auf Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung" von 1947 zurück; ihn heute zu benutzen unterstellt im Weiterdenken des "Massenbetrugs" (Horkheimer / Adorno), des Kulturgeschwätzes, dass noch die sogenannten "Neuen Medien" in den Zusammenhang eines wie auch immer schematisierten kulturellen Instrumentariums gehören, was selbst dann bezweifelt werden darf, wenn sie mehr oder minder zufällig kulturelle Inhalte transportieren. Denn entscheidend sind überhaupt nicht mehr die Inhalte, sondern die Auswirkungen der Informations- und Kommunikationstechnologien selbst; sie greifen derart in das Leben und in das Bewusstsein der Menschen ein, dass sie als Übertragungsmittel zumindest gleichrangig neben das von ihnen Vermittelte treten, wenn nicht es überlagern. Schon die "alten" Medien - der Hörfunk und zunehmend auch das Fernsehen mit den gewohnten Programmen - werden häufig eingeschaltet, wie man Vorhänge aufzieht oder das Licht anknipst, ohne dass die Medienbotschaft überhaupt wahrgenommen wird.

Ob es sich bei dem "Neuen" lediglich um neue Übertragungswege der alten Medien oder um einen grundlegenden Wandel des Informationsbegriffs handelt, ist eine theoretische Frage, die nur unbefriedigende Antworten provozieren kann; ist die erste Annahme vielleicht zu unterspielend "harmlos", so verkennt die zweite, dass sich der Informationsbegriff im Verlauf der Geschichte bereits mehrfach entscheidend geändert hat. Die etymologische Spurensuche bringt darauf, dass die ursprüngliche, aus dem klassischen Latein abgeleitete Bedeutung des Wortes "Information" - "Einformung", "Bildung", "Gestaltung" - zunächst in der Scholastik, also im Mittelalter, aufgegriffen wurde ("informatio" als "Versehen der Materie mit einer Form") und ab der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert praktische Bildungsinhalte - belehrender, allgemein pädagogischer Art - aufnahm. Sie verloren sich allmählich zugunsten einer alltäglichen Anwendungsweise: Information als Mitteilung, Nachricht, Auskunft, wozu neu der kybernetische, also nachrichtentechnische Aspekt trat. f13 Jungen Datums ist die Informationsindustrie, wobei die Abfolge verdeutlicht, dass bei der Inhaltsbestimmung zunächst die philosophische zugunsten einer praktischen zurücktritt, diese immer enger, auch flacher wird, bis - nicht nur sprachlich - sich gleichzeitig mit der Hinzufügung des "Technischen" die Verbindung mit der "Industrie" ergibt, wobei der Inhalt von informatio nebensächlich wird, ja eigentlich aus der Interessenlage derer verschwindet, die mit dem Begriff umgehen. Das ist auch dann der Fall, wenn nicht die Industrie im unmittelbaren Sinn agiert, also Gewinn zieht aus der Fertigung und dem Vertrieb von Kommunikationsmitteln, aus der Herstellung von Geräten für den geschäftlichen und privaten Gebrauch, aus der Mikroprozessortechnik etc.. Zur Ware werden ebenso die Daten selber: Berichtet wird über das Anwachsen des Informations-Protektionismus in den USA. Dieses "Schutz"-Bedürfnis wirkt sich zu Lasten aller mittleren und kleinen Staaten aus, die ja im Machtkampf der Elektronik-Giganten nicht mithalten können.

Die Informationsindustrie ist auf dem Vormarsch, der sicher nicht zu stoppen, wohl aber zu unterlaufen ist. Hinsichtlich der Zuschauerzahl wird Nam June Paiks Liveshow via Satellit zum Auftakt des Jahres 1984 "Good Morning, Mr. Orwell" von der "Schwarzwaldklinik" mühelos erreicht, aber diese Nivellierung durch die Zahl, die Gleichsetzung des weltumspannenden raumzeitlichen, Trivialität in Kunst aufhebenden Ereignisses mit der (Schauspiel-) Kunst in Trivialität aufhebenden Mickerigkeit als einer professionellen Unkultur, die die Welt auf den Punkt des einfältigen Tagtraums bringt, verfehlt eine wesentliche Differenz und zugleich ein Verbindendes. Die Satellitenkunst ist Fernsehen pur, ironische Sichtbarmachung dessen, was Alexander Kluge kürzlich in einem SFB-Statement zu seinem Film "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" die fingierte Permanenz der Gegenwart genannt hat, einer Gegenwart, die aufgeladen ist von explosiven menschlichen Energien, durch die Vergangenheit und Zukunft vernichtet zu werden drohen. Wir leben sozusagen ohne Geschichte und ohne Vision; Erinnerungsvermögen und Vorstellungskraft werden, so Kluge, niedergebügelt durch die aktuellen Medien, vernichtet durch Bilder. Diese Bilderflut, dieses Vorgaukeln der Verfügbarkeit in einem Medium, das wir mittels Sensor aus dem Fauteuil betätigen können, überspült gesellschaftliche Erfahrungswelten, die nicht mehr im Diskurs erlebbar, auf ihre Ursachen hin durchschaubar werden. Das Schauen verhindert das Erkennen. Unabhängig von Postman registriert Kluge eine "Unterhaltungsgesellschaft", "nach außen aggressiv bis in die Knochen", angetrieben von der Unterhaltungsindustrie. Das sei einer der Angriffe der Gegenwart auf die übrige Zeit.

Postmans Diktum, das Fernsehen sei dabei, "unsere Kultur in eine riesige Arena für das Showbusiness zu verwandeln" f14 , ist, wie sehr auch immer an amerikanischen Erfahrungen definiert, schwerlich zu widersprechen. Wir sind dabei, eine wesentliche Errungenschaft preiszugeben, die Verschriftlichung unserer Kultur. Postman nennt die Erfindung des Buchdrucks als wesentlich für den entfalteten öffentlichen Diskurs; tendenziell seien dadurch verstärkt worden: "die hochentwickelte Fähigkeit zu begrifflichem, deduktivem, folgerichtigem Denken; die Wertschätzung von Vernunft und Ordnung; der Abscheu vor inneren Widersprüchen; die Fähigkeit zur Distanz und zur Objektivität; die Fähigkeit, auf endgültige Antworten zu warten" f15 . Schriftliche Kommunikation und Lesekultur haben sich in Konkurrenz zur Rede und zur mündlichen Überlieferung entfaltet, ein zivilisatorischer Prozess, der gegenüber der oralen Tradition erhöhten Lern- und Energieaufwand erforderte: darauf wies auf einem Symposium der Berliner "Horizonte '85" Georg Elwert (Universität Bielefeld) hin. "Da sie weniger vielschichtig als die gesprochene Sprache ist, muss die Schriftkultur durch spezifische Institutionen stabilisiert werden, die den Gebrauch der Schrift trotz ihrer Umständlichkeit hochhalten. Gottesdienste mit Schriftlesung, Schulen und Zeitungen sind solche Institutionen. Ausschlaggebend ist, ob wesentliche Bereiche des Wissens verschriftlicht werden." f16 Zu den Zeitungen sind Rundfunk und Fernsehen als machtvolle orale und visuelle Angebote gekommen, mit erhöhtem institutionellem Aufwand, der den für die Schriftkultur geleisteten weit in den Schatten stellt und durch die Neuen Medien monströse Ausmaße annimmt. Nunmehr treten Wort und Bild in eine Konkurrenz, die entwicklungsgeschichtlichen Prozessen der Vergangenheit in dieser Schärfe unbekannt war. Postmans Einstufung jener Informationen, die in den Medien als "Nachrichten" erscheinen (im Fernsehen ehrlicherweise als Tagesschau), reflektiert wiederum amerikanische Verhältnisse und wurde von deutschsprachigen Lesern vielfach für übertrieben gehalten: Diese Nachrichten - ungeachtet ihres womöglich katastrophischen Inhalts mit Konsumwerbung durchsetzt - hätten einen "surrealistischen Rahmen", seien vergleichbar mit dem "Dadaismus" und dem "Varieté" f17 . Die Wirklichkeit ist vermutlich schlimmer als Postmans feuilletonistische Beschreibung. Ein Schweizer Autor, Peter K. Wehrli, zitierte kürzlich den Besitzer einer US-amerikanischen Fernsehanstalt: "'Kultur!' lachte der Mann … 'So was wollen unsere Zuschauer nicht sehen. Wir senden das, was die Leute sehen wollen! '" Und, auf die Nachrichtenbulletins der Tagesschau bezogen:
"Auch dort, wo es nichts zu sehen gibt, muss etwas gezeigt werden." f18 Dieser Leitsatz, der nicht an optimaler Information, sondern einzig an der Verkäuflichkeit des Programms orientiert ist, macht den angeblichen "Willen" der Zuschauer zur Farce. Es geht nicht darum, die "Unterhaltung" abzuwerten, die eben "auch sozialtherapeutische Instanz" ist. f19 Dass die Leute "wollen", was ihnen ohnehin aufgezwungen wird, wurde nicht nur von Adorno festgestellt; es ist mittlerweile eine Grunderfahrung zum Verständnis selbstmörderischen Handelns, namentlich unter politischer Zwangsherrschaft, aber ebenso in weniger offensichtlichen, beispielsweise von der Kapital-Akkumulierung bestimmten Herrschaftsstrukturen. "Die Freiheitsberaubung geht als Lustlieferung vor sich", notierte Günther Anders lakonisch. f20

Selbstverständlich haben die Printmedien daran gehörigen Anteil. Die Tarnung der "Kulturfeindlichkeit" als "Leserfreundlichkeit" (Peter K. Wehrli) geschah nicht, wie die Legende will, unter ausschließlichem Druck des visuellen Massenmediums Fernsehen. Es gibt allerdings ein verbindendes Moment, und das ist die kommerzielle Verwertbarkeit der Orientierungslosigkeit. Die Pressemedien dienten traditionell als "hauptsächliches Orientierungsinstrument der führenden Schichten bzw. der sie tragenden Mittelklasse". Boulevard-, Kitsch- und Sensationsblätter eigneten sich vorzüglich dazu, die Bedürfnisse einer sozial vernachlässigten, für die Parteien als Stimmvieh nützlichen Mehrheit zu kanalisieren (der Ausdruck "befriedigen" verbietet sich) durch "Möglichkeiten zur Scheinidentifikation mit personalisierten Glücks-, Erfolgs- und Leidensmythen". Dadurch "entsteht ein auch politisch nachdrücklich wirksamer Effekt von Scheinorientierung", der die demokratische Willensbildung in Frage stellt. f21 Mittlerweile haben sich die anspruchsvollen Presseerzeugnisse mit wenigen Ausnahmen auf die Linie der visuell betonten "Magazinierung" eingependelt, wobei die Häppchen-Informationen von Rundfunk und Fernsehen das Vorbild abgaben. Angesichts der Übermacht einer wachstumsorientierten Medienindustrie sind die oft rührenden Versuche der Anpassung auch in eher behäbigen Verlagshäusern als Überlebensstrategien nachvollziehbar. Es ist überdies nur allzu verständlich, wenn sich beispielsweise 167 bundesdeutsche Zeitungsverlage - unter der Kapitaldominanz von Springer (35 % Anteil) - zu dem Unternehmen Aktuelle Presse-Fernsehen GmbH (APF) zusammenschließen, einer Art Nachrichtenkolonne für das über Satellit abgestrahlte Verlegerprogramm SAT 1 mit den Häusern Springer, Burda und Bauer an der Spitze; es geht dabei um die Nachrichtensendung "Blick" (dreimal am Tag). Über die Kapitalverfilzung bei den auf Jahre hinaus noch unprofitablen Kabelprogrammen, die auch gegen ausländische Anbieter (RTL plus) und überhaupt auf dem internationalen Markt (z.B. bei Pay-TV) ihre Durststrecken durchhalten müssen, ist hier nur andeutend zu reden. Wichtiger erscheint im Zusammenhang dieser Überlegungen, dass die dem geschriebenen Wort verpflichteten Medien - auch wenn weiterhin Zeitungen erscheinen werden - freiwillig das Feld ihrer Eigenständigkeit räumen.

Nun werden Meinungen geäußert, die besagen, dass auch das Fernsehzeitalter am Ende sei, weil es "das" Fernsehen in der Erscheinungsform der visuellen Dauerberieselung schon nicht mehr gibt, sondern in der Wahrnehmung nur noch eine unstrukturierte Bilderflut, zerstückelte Bildsequenzen. Fernsehen werde in Zukunft - so Stimmen aus den USA - "häppchenweise" konsumiert werden, "in bits and pieces", was heute bereits dem Angebot der Kurznachrichten entspricht. Insbesondere der Jugendliche stelle sich nicht mehr auf bestimmte Anfangszeiten ein; seine "Instant-pleasure"-Bedürfnisse würden durch beliebig einschaltbare Tag-und-Nacht-Programme mit den immer gleichen Inhalten befriedigt, seien es Videoclips und Mitschnitte von Rock- und Pop-Konzerten oder sogar Nachrichten-Shows (des Cable News Network/CNN). Dagegen ist der Versuch der öffentlich-rechtlichen ARD, die Wissenschaft für den Nachweis eines erhofften Full Bock der jungen Generation auf die Medien einzuspannen, ein betuliches Rückzugsgefecht. f22

Warum das alles so ist, mag durch einige Überlegungen aus dem Bereich der Psychologie und Pädagogik dargetan werden; sie sollen zu einer nur auf den ersten Blick überraschenden Verbindung von Hören und Denken führen, etwa zum Gegenteil dessen, was die Pseudo-Psychologie der Werbung (in diesem Fall des Schallplattenvertriebs von "Zweitausendeins" ) verheißt: "Musik zum Entspannen, zum Träumen, zum Lieben, zum Fühlen, zum Eintauchen, zum Sich-Öffnen, Musik, die sich nicht in den Vordergrund drängt, die Ihnen hilft, sich loszulassen und sich selbst zu finden." Missbraucht wird unter albernen Sammeltiteln wie "Adagio", "Tiefe", "Sphären", "Erwachen", "Eden" und so fort nicht die Musik von Bach und Händel, Mozart und Brahms, Debussy, Strawinsky und Mahler, sondern der Konsument, dem mit Begriffen, die aus vorsätzlich missverstandener Musiktherapie entlehnt scheinen wie Loslassen, Sich-Finden, Meditation, Beruhigung, falsche Versprechungen gegeben werden (dass die Platten und Cassetten billig sind, steht auf einem anderen Blatt). Derart gedankenloser Wortsalat, auch und gerade in der sogenannten Alternativszene, verkennt - mit gleichem Zungenschlag - eine "Verlorenheit", die irreversibel ist. Ich meine den Zusammenhang zwischen Technisierung - des Arbeitsplatzes ebenso wie der "Freizeit"-Sphäre - und Verhaltensweisen. Die Mikroelektronik, sagen Arbeitspsychologen, werde mittelfristig im Schnitt zwei Drittel aller Arbeitsplätze vernichten. Vorgeschlagen wird zum Ausgleich eine drastische Arbeitszeitverkürzung. Abgesehen von den kaum vorstellbaren Arbeitskämpfen, die zu ihrer Durchsetzung geführt werden müssten: Was geschieht mit der Freizeit, in der nicht zuletzt dank der Neuen Medien, der "Technisierung der engsten Lebensumwelt", die gleichen Strukturen vorherrschen wie am wegrationalisierten Arbeitsplatz? "Die Technisierung bemächtigt sich auch der Freizeit und zwingt dieser damit ihren eigenen Rhythmus auf. Wer Freizeit mit Mediennutzung füllt, der hat keine Freiheit der Zeit mehr. Er unterwirft den von außen kommenden Freizeitangeboten sein kommunikatives und soziales Verhalten und drängt es zugunsten der akzeptierten Angebote zurück. Stressverstärkung auch in der von Arbeit freien Zeit ist dann unvermeidlich. … Die Verdinglichung menschlicher Beziehungen, der Verlust von Primärerfahrung, Aktivität und Entscheidungsfähigkeit und damit die zunehmende Sinnentleerung im Alltagshandeln sind in diesem Kontext Stichworte, die einen möglichen Trend beschreiben." f23 Ein neues Schlagwort benennt das zentrale Phänomen sehr anschaulich als "Freizeitunfähigkeit".

Wissenschaftliche Äußerungen dieser Art werden gern als Schwarzseherei abgetan. Ich behaupte hingegen, dass das, was hier als Möglichkeit bedacht wurde, schon eingetreten ist, und dass die Manager der Neuen Medien auf dieser Klaviatur der Verdinglichung sehr gut zu spielen wissen. Einer von ihnen, Dr. Lutz Jonas von der "Ufa Film und Fernseh-GmbH, ein(em) Unternehmen von Bertelsmann und Gruner + Jahr", übersandte mir einen Artikel, mit dem er meinen Kulturpessimismus zu widerlegen hoffte, erschienen in einer Zeitung, von der er wohl (mit Recht) annahm, dass sie nicht zu meiner ständigen Lektüre gehört. Er liest darin den deutschen Kulturorchestern - Anlass seiner Schreibe war ein Vortrag vor der Deutschen Orchesterkonferenz 1985 in Berlin - die Leviten wegen ihres einseitigen Images. Gleichzeitig wird dem deutschen Fernsehen und Hörfunk gesagt, wo es langgeht. "Warum fehlt der Mut zu einer regelmäßigen kleinen Konzertreihe 'Klassik zum Entspannen' im Vorabendprogramm, vielleicht nicht einmal länger als eine Viertelstunde?" Das ist eine Kombination der "Zweitausendeins"-Idee mit der Zerstückelung von Zeit, der Verabreichung kultureller Information in mundgerechten Häppchen. "Unter dem Gesichtspunkt des Pay-TV, also des Abonnenten-Fernsehens gegen spezielles Entgelt, empfehlen sich Überlegungen in Richtung Konzertereignis in ganz besonderem Maße. Pay-TV … wird … in allernächster Zukunft nicht umhinkommen, sein Programm durch 'special events' anzureichern. Das sind besondere Ereignisse aus allen möglichen Bereichen wie Sport, Show-Business und Gesellschaftsleben. Konzerte könnten hier ihren Platz haben, wenn sie in irgendeiner Form Ereignischarakter bekommen und damit mehr in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gelangen, sprich populär werden." f24 Ereignis, dachte ich bisher, sei die Musik. Das Ärgerliche solcher Sätze ist die sich anbiedernde Geste der Volksbeglückung, eine Attitüde, die überdeckt, was gemeint ist: Konzerte als Schaugeschäft, als das Geschäft jener (nach Postman) traurigen Gestalten mit hohem Einkommen, die sich wie ihre Doubles im Scheinwerferlicht Entertainer nennen müssten, professionelle Unterhalter.

Was hat die Verdrängung des Wortes durch das Bild mit der Musik zu tun? Ganz einfach: Das bewusste Musik hören kann menschliche Qualitäten befördern, deren Erwerb bisher vorwiegend dem rationalen Lernen zugeschrieben wurden. Es geht dabei nicht nur - obwohl schon das wichtig genug wäre - um allgemeine Prozesse der Reifung, der Persönlichkeitsbildung, des Wiedergewinns von Freiheit und Selbstbestimmung; es geht durchaus auch um sogenannte intellektuelle Fähigkeiten, von denen ich glaube, dass sie das Ganze des Menschen tangieren, im Wortsinn als Innewerden, als Erkennen, und nicht nur seine Ratio. Umgekehrt gibt es eine Fähigkeit, die vor allem das Musikhören betrifft und die ich das Gefühlsverständnis nenne, das mit Intuition nicht gleichzusetzen ist. Neurologische und psychologische Forschungen haben sich in den letzten Jahrzehnten eingehend mit den beiden Hirnhemisphären befasst; diese Untersuchungen wurden von den Massenmedien und in populärwissenschaftlichen Artikeln oft in einer Weise aufgegriffen, die neuer Legendenbildung Vorschub leistete. Zu nicht nur musikpädagogisch gerichteten Schlüssen kommt Horst-Peter Hesse in einem umfangreichen "Plädoyer für die Hörerziehung bis hin zum 'strukturellen Hören'" f25 . Der letzte Stand der Dinge ist, Hesse und einigen anderen Autoren zufolge, etwa dieser: Es gibt keine laterale Dominanz der einen oder anderen Hemisphäre mit festgelegten "Zuständigkeiten". Nach populärer Auffassung sind Sprache und logisch-analytisches Denken in der linken Großhirnhälfte, Musik, Bilder, Raumorientierung, Kreativität dagegen in der rechten "zu Hause". Diese Einteilung, die man - ihr entsprechend - als linkslastige Gehirnarbeit bezeichnen könnte, beruht in ihren Grundannahmen auf Forschungsergebnissen und ist richtig und falsch zugleich. Falsch daran ist die behauptete Ausschließlichkeit; offensichtlich gibt es keine menschliche Aktivität, die nur von der einen oder anderen Hirnhälfte geleistet werden könnte. Psychologen sprechen von "zwei halb-autonomen Systemen, die Informationen unterschiedlich verarbeiten" f26 . Da über die wechselseitige Ergänzung der analytischen und der intuitiven Art des Erkennens hinaus ein Kontinuum anzunehmen ist, muss wohl auch die Rede vom entweder visuell oder akustisch über die Sprache aufnehmenden "Typ" revidiert werden.

Es gibt zwar nach wie vor auch so etwas wie eine Lateralität, eine Seitenbestimmtheit, aber sie bezieht sich mehr auf die Art und Weise der Wahrnehmung zum Beispiel von Musik und Sprache als auf die zuvor angenommene Spezialisierung der Hemisphären. Auf der einen Seite gibt es eine sequentielle Verarbeitung - wie bei einem Computerprogramm -, auf der anderen ein mehr ganzheitliches Erfassen. Zweifellos erfuhr die rechte Hemisphäre eine Aufwertung; daraus abzuleiten, wir brauchten, um unserer "Kopflastigkeit" zu entgehen, nur noch sie zu aktivieren und, auf die Intuition vertrauend, in die Musik, in die Liebe oder unsere Wachträume "einzutauchen", wäre reichlich naiv. Horst-Peter Hesse gelangt zu konträren Folgerungen:
"Gerade die Musik könnte dem Antirationalismus entgegenwirken. Akustische Informationsverarbeitung erfordert - sofern sie nicht auf der Ebene der unmittelbaren sinnlichen Wirkung stehenbleibt - eine besondere Art beziehenden Denkens." Der erste Schritt auf dem Wege hierzu "ist das Wecken der Phantasie". f27 Die höchstentwickelte, freilich nicht die einzig vorstellbare Form des Wahrnehmens von Musik ist das von Adorno so benannte "strukturelle Hören". Verlangt wird damit, "mehrschichtig zu hören, das musikalisch Erscheinende nicht nur als Gegenwärtiges, sondern auch in seinem Verhältnis zu Vergangenem und Kommendem der gleichen Komposition" f28 . Adorno bildete diesen Begriff an Neuer Musik der Zweiten Wiener Schule, die - verglichen mit traditioneller Musik - besondere Anforderungen an das Hören stelle; die dafür gewählten Begriffe mögen verwundern: es sind "ein höheres Maß an Unmittelbarkeit, ein Wegwerfen der Krücken aus dem Fundus" f29 . Ein dem Komponieren (Schönbergs, Bergs, Weberns) entsprechendes "integrales" Hören bedürfe "gleichsam der allseitigen Aktualität, Spontaneität der Wahrnehmung. Solches Hören wäre freilich in Wahrheit das allein menschenwürdige Verhältnis einer jeglichen Musik gegenüber …" f30 ). Es scheint, als habe der gestrenge Adorno mit diesen Gedanken - des Hörens als eines mehrschichtigen, integralen und zugleich unmittelbaren Vorgangs - die Sachverhalte der modernen Hemisphärenforschung vorausgeahnt, denn neben dieser Ganzheitlichkeit und Spontaneität, die ja rechtshemisphärisch anzusiedeln wären, ist analytisches, gleichsam nachkomponierendes Hören gemeint; die Mehrschichtigkeit bedeutet Erinnern und Vorausdenken, einen Vorgang, bei dem das Ohr dem akustischen "Reiz schutzlos ausgeliefert" ist, in den Fortgang der Musik "eingespannt" bleibt, denn die Zeitkunst Musik "gestattet kaum strafloses sich Abkehren wie räumliche" f31 . Wie anders sollte das alles bewältigt werden als durch das beschriebene Kontinuum!?

Nicht nur am Rande sei angemerkt, dass diese Art von Informationsverarbeitung mutwillig dem Verkümmern preisgegeben wird, nicht allein in musikalischen Werken von der traurigsten Gestalt, sondern auch durch Anweisungen von Redakteuren an ihre Autoren. Produkte sollen hergestellt werden, die nicht auf Vergangenes zurückgreifen, nichts voraussetzen, keine Vorgeschichte und keinen Kontext haben, flockig-saubere Produkte. In den Nachrichten muss dasselbe immer noch einmal gesagt werden, so dass für wirklich Neues nur noch wenig Raum bleibt; die Zeitschraube wird über die Häppchen-Begrenzung hinaus noch weiter angezogen. Der Zuschauer/Zuhörer/Leser darf vor allem eines nicht: "verunsichert" werden, denn das könnte ihn zum Aufruhr treiben, konfrontiert mit der Wahrheit, die die Nachrichten gerne verschweigen - dass es unsicher, bedrohlich bestellt ist um uns, die wir alles haben, besonders den Überfluss. Was gepflegt wird am Konsumenten, ist seine Pflegeleichtigkeit: so wird er zu einem Teil der Warenwelt.

Horst-Peter Hesses Hörplädoyer zielt auf Persönlichkeiten, die sich dieser schleichenden Vereinnahmung widersetzen würden; insofern ist es ein politischer Beitrag. Da zweifelsfrei belegt ist, dass auch die rechte Hirnhälfte Sprache zu erkennen vermag und die linke wiederum am Verstehen von Musik beteiligt ist, liegt es nahe, Musik stärker in den Schulunterricht einzubinden, sie nicht als Medium fragwürdiger "Erholung" von intellektuellem Tun anzusehen, sondern als ganzheitlich akzentuiertes Bildungspotential einzusetzen. "Wenn die akustische Auffassungs- und Differenzierungsfähigkeit durch Umgang mit Musik gesteigert werden, dann müsste das Ergebnis nicht nur dem musikalischen Vermögen zugute kommen, sondern sich auch auf die Fähigkeit, Sprache hörend zu erfassen, positiv auswirken." f32 Folgerichtig weitergedacht führt diese Fähigkeit zum musikalischen Gehalt selbst der mitteilenden Sprache sowie, mit Adorno und seinem Gegenspieler Ernst Bloch als Ahnherren, zu der in der Moderne so aktuellen Musik als Sprache, verborgener Sprache zwar, die aber hörend zu erfahren ist als illusionslose, vieldeutig offene Kunst des Vor-Scheins. Hoffnung, zur lächerlichen Floskel in der politischen Alltagssprache verkommen, ist damit gerade nicht verbunden. Gegen die Hoffnung und die unerträglich dynamischen Optimisten gilt es (man verzeihe das kriegerische Wort) in der Kunst mobil zu machen, im Vertrauen darauf, ja in der Gewissheit, dass sie den Kampf verlieren wird. In Zeitläuften wie diesen mit dem - tödlichen Explosionen zum Trotz - unwiderstehlichen Sog nach oben sind Niederlagen das einzige Mittel, immer wieder von neuem und das Neue zu beginnen: den Missbrauch der nützlichen Maschinen, den hoffnungslosen Widerstand. "Zwar" …

t1 Ich gebrauche den Begriff "Avantgarde" hier im herkömmlichen Sinn: als das noch nicht Etablierte, gegenüber dem vorherrschenden Geschmack Unangepasste.

t2 Dani Schönmann : "Vom allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit." In: Tages-Anzeiger (Zürich) vom 17.1.1986.

t3 Vergl. hierzu Klaus Buhlert: "Musiksprachen auf Computersystemen. " Hrsg.: TU Berlin und Berliner Künstlerprogramm des DAAD anlässlich der Inventionen '85.

t4 C .-H. Bachmann : "Was bedeutet heute 'Ästhetik'?" In: protokolle (Wien-München), Bd. 1/1980, S. 69.

t5 Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1970, S. 117.

t6 Ebenda, S. 113.

t7 Helmut Lachenmann: "Musik als Abbild vom Menschen." In: NZ Neue Zeitschrift für Musik (Mainz), 11/1985, S. 18.

t8 Walter Volpert: "Zauberlehrlinge. Die gefährliche Liebe zum Computer." Weinheim und Basel 1985, S. 134 ff.

t9 Abraham A. Moles: "Kunst a Computer." Köln 1973, S. 98.

t10 10 Ein andere Sache ist, dass man elektronische Netzwerke speziell für Kunst (und nur für sie) installieren und gebrauchen kann: Vergl. Heidi Grundmann: "Internationaler Realismus - Elektronische Netzwerke von Künstlern." In: Nam June Paik: Anthologie anl. der Ausstellung "Good Morning Mr. Orwell" (daadgalerie Berlin Nov. /Dez. 1984) und der OECD-Konferenz "1984 und danach".

t11 Heft 43/44 (Franco Evangelisti). München 1985, S. 3.

t12 "Psycho-Kult - kleine Fluchten in die großen Worte." In: Kursbuch 82 (Berlin 1985), S. 72.

t13 Vergl. Helmut Seiffert: "Information über die Information." München 1971', S. 23 ff.

t14 Neil Postman: "Wir amüsieren uns zu Tode." Frankfurt am Main, S. 102.

t15 Ebenda, S. 82.

t16 Symposium aus Anlass von "Horizonte '85", Berlin: "Das 21. Jahrhundert - Das Jahrhundert Asiens?". Arbeitsheft Podium und Seminar II. Hrsg.: Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung. S. 4.

t17 Neil Postman, a.a.O., S. 130.

t18 Peter K. Wehrli: "Hat die Kultur die Vermittler, die sie verdient?" In: Tages-Anzeiger (Zürich) vom 28.12.1985.

t19 Hans-Dieter Kübler, H. Gerd Würzberg: "Fernsehen." In: H. Jürgen Kagelmann, Gerd Wenninger (Hrsg. ): "Medienpsychologie. ", München-Wien-Baltimore 1982, S. 41.

t20 Günther Anders: "Die Antiquiertheit des Menschen." Bd. II: "Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution." München 1980, S. 179.

t21 Zitate: Gerd G. Kopper: Presse. In: "Medienpsychologie." a.a.O., S. 179.

t22 Vergl. Gerhard Maletzke: "Jugend 85 - Full Bock auf Medien?" In: ARD-Magazin 1/86, S. 10 f.

t23 Claus Eurich: "Neue Medien." In: "Medienpsychologie", a. a .0., S. 122 ff.

t24 Lutz Jonas: "Ravels Affäre mit der Traumfrau ." In: DIE WELT (Hamburg ) vorn 4.5.1985.

t25 Horst-Peter Hesse: "Für ein Gleichgewicht der Sinnesleistungen." In: Neue Musikzeitung (Regensburg-München), 6/1985, S. 24 ff.

t26 Robert Ornstein: "Denken." In: Human Nature 5/1978, zitiert nach: Psychologie heute (Weinheim), 1/1986, S. 36.

t27 Horst-Peter Hesse, a.a.O., S. 25.

t28 Theodor W. Adorno: "Der getreue Korrepetitor." Frankfurt am Main 1963, S. 95.

t29 Ebenda, S. 53.

t30 Ebenda, S. 95.

t31 Ebenda, S. 41.

t32 Horst-Peter Hesse, a.a.O., S. 26.

 


zurück zur Programmübersicht Inventionen 1986