Sonntag, 9.3.1986
                                                                                                                 17.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Vortrag / Demonstration

Michel Chion präsentiert einen Querschnitt durch die Musik/Sprach-Produktionen der Groupe de Recherches Musicales (GRM), Paris


                                                                                                                 Sonntag, 9.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße
Josef Anton Riedl epiphyt II (1977/81)
zeichnen - klatschen/zeichnen - zeichnen
lautgedichtfolge b)
klangsynchronie II für trommeln - für sprechen
***
Oskar Sala Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1985/86) (UA)
zweispuriges Tonband
Thomas Kessler Drum Control (1983)
für Schlagzeug und Computer
Luigi Nono La fabbricca illuminata (1964)
für Stimme und vierspuriges Tonband

mit:

Robyn Schulkowsky Schlagzeug, Sprechen, Klatschen, Stampfen, Tierlautinstrumente
Lorenzo Ferrero Synthesizer, Klatschen
Stefan Gabanyi, Johannes Göhl, Michael Hirsch Sprechen, Klatschen, Stampfen
Norbert Wetzel Sprechen, Klatschen, Stampfen, Kontrabass
"Die Maulwerker" (Einstudierung: Dieter Schnebel) Sprechen, Klatschen
Dieter Schnebel Sprechen, Klatschen
Josef Anton Riedl Klangregie
Martin Schulz Schlagzeug
Madalena de Faria Sopran

Riedel 1Riedel 2

Riedel 3


OSKAR SALA:
"Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei"

Jean Paul (1763 - 1825)

zuerst als Einlage in seinen 1796/97
erschienenen Rom "Siebenkäs"
bekannt geworden

Idee einer Sprach-Elektronischen Komposition nach Jean Paul und Textauswahl:

Hermann Scherchen (1966)

Einziger Sprecher:

Friedrich Schönfelder (1966)

Musikkomposition, Sprach- und Klanggestaltung sowie Realisation im eigenen elektronischen Studio:

Oskar Sala (1985/86)

 

Anfang 1966 lud mich Hermann Scherchen in sein Studio nach Gravesano (Tessin) ein: Vorschlag für ein Trautoniumwerk für seine nächste internationale Tagung in Gravesano.

Ich war bereits mehrmals zu seinen Tagungen in sein Studio eingeladen worden. Ein Bericht über meine Arbeiten erschien 1962 unter dem Titel (Mixturtrautonium (s. Abb., ) und Studiotechnik" in seinen Gravesaner Blättern, mit Klangbeispielen auf einer Schallplattenbeilage. Das Trautonium kannte er schon seit 1951. Damals hatte Paul Dessau in seiner Oper "Das Verhör" (später "Die Verurteilung des Lukullus"), Text von Bertold Brecht, eine teilweise heikle Solopartie für mein Instrument geschrieben. Die skandalumwitterte Uraufführung in der Staatsoper Unter den Linden am 17.3.1951 dirigierte Hermann Scherchen.

Bei meinem Besuch in Gravesano 1966 überraschte er mich mit einer Kurzfassung des Textes der berühmten Einlage zum Siebenkäs-Roman von Jean Paul. Er bat mich, dies als Vorlage für eine Sprach-Klangkomposition mit dem Mixturtrautonium zu versuchen. "Ich weiß, dass Sie verschiedenste Sprecher für Ihre Filmkompositionen in Ihrem Studio aufgenommen und dabei eigene technische Methoden ausgearbeitet haben. Finden Sie hier ein Maximum und verbinden Sie es mit Ihrem Klangzaubereien. Ich werde für die Vorführung in meinem Studio alles so einrichten, wie Sie es haben wollen."

Wir wurden über die endgültige Textkurzfassung schnell einig, und da die Zeit drängte, begann ich sofort mit der Sprachaufnahme. Mein Favorit war Friedrich Schoenfelder. Als ich die Bandaufnahme Scherchen zur Kenntnis bringen wollte, kam mir die traurige Nachricht zuvor, dass der große Dirigent "in den Sielen" an einem Herzinfarkt plötzlich gestorben war. Die Tonbänder (einschließlich meiner ersten Klangversuche) lagerten seitdem ungenützt in meinem Studio-Bandarchiv.

Folkmar Heins Umfrage zur Veranstaltungsreihe "Sprachen der Künste" erinnerte mich an dieses Projekt. Ich fand Schoenfelders Textinterpretation als außergewöhnlich engagiert und sprachtechnisch professional gelungen vor und begann mit Sprach- und Klangexperimenten. Mein Vorschlag wurde akzeptiert, und ich freue mich, dass der alte Plan - auch als posthumer Dank an Hermann Scherchen - inzwischen mit meinen neuesten Studiotechniken realisiert werden konnte.

 


THOMAS KESSLER:
Drum Control
Percussion und Computer 1983

wurde für Jean-Pierre Drouet geschrieben und entstand auf seinen Wunsch hin, elektronische Klangmittel mit dem traditionellen Schlagzeug zu verbinden. Bereits 1981 entstand "Drumphonie" für Schlagzeug, Computer und Orchester, das auch von Jean-Pierre Drouet zusammen mit dem Kölner Rundfunkorchester in der Reihe "Musik der Zeit" des WDR uraufgeführt wurde.

"Drum Control" gehört - zusammen mit "Piano Control ", "Flute Control " und "Violin Control" - zu einer Reihe von live-elektronischen Solo-Studien, in denen jeweils ein Instrument sehr eng mit elektronischen Geräten (Synthesizern, Computern) verbunden ist. Die daraus resultierenden klanglichen Möglichkeiten mögen zwar auf unser Ohr einen großen Reiz ausüben, es geht jedoch in diesen Stücken vielmehr um eine Erweiterung der spezifischen Artikulationsmöglichkeiten eines Instruments. Aus diesem Grunde spielt der Instrumentalist nicht mehr ein Instrument allein, sondern überträgt seine Spieltechnik und Reaktionsfähigkeit ohne Hilfe eines zusätzlichen Assistenten auf die vom Komponisten programmierten elektronischen Instrumente. Dies stellt ihn zwar einerseits vor neue, zum Teil fast unüberwindliche Schwierigkeiten hinsichtlich Spieltechnik und Konzentration, erlaubt ihm aber andererseits auch jederzeit die Kontrolle über den Klang, der aus den Lautsprechern kommt, selbst und spontan zu gestalten. Von dem Mischpult im Saal aus wird die Klangbalance im Raum geregelt.

Das Wort "Control " stammt aus dem Bereich der Analog-Synthesizer Technik, wird aber auch in der Computersprache verwendet und bedeutet Steuerung. Hier vollzieht sich dieser Begriff auf verschiedenen Ebenen zwischen Interpret, Instrument und Elektronik.

"Drum Control" ist mit dem "Fairlight-Musikcomputer" komponiert und programmiert worden. Der Fairlight-Musikcomputer (bestehend aus zwei Mikroprozessoren mit rund 400 K) ist der erste in größerer Anzahl hergestellte Computer einer neuen Instrumentengeneration, welche sozusagen keinen Eigenklang mehr besitzen, sondern mit jedem erdenkbaren Klang programmiert werden können, vergleichbar mit einem Tonband. Neben elektronischen Klängen wurde auch vor allem die Stimme des Interpreten im Computer gespeichert. Der Solist spielt diese Klänge, durch Transformationsprogramme verändert, auf zwei Manualen, verschiedenen Fußpedalen und einem Alpha-Keyboard. Mit einem Mikrophon ist außerdem sein Instrument mit dem Analog-Interface des Computers verbunden: mit Tonhöhe, Lautstärke, Ansatz, Klangfarbe und Atem kann er jeden Parameter der Computerklänge steuern und beeinflussen.


LUIGI NONO: La fabbricca illuminata

1 (CORO INIZIALE)

fabbrica dei morti la chiamavano
Fabrik der Toten wird sie genannt

esposizione operaia
Ausgesetztsein der Arbeiter

a ustioni
den Verbrennungen

a escalazioni nocive
den Giftgasen

a gran masse di acciano fuso
den großen Gußstahlmassen

esposizione operaia
Ausgesetztsein der Arbeiter

a altissime temperature
den sehr hohen Temperaturen

su otto ore due ne intasca l'operaio
für acht Stunden Arbeit kassiert der Arbeiter nur zwei

esposizione operaia
Ausgesetztsein der Arbeiter

a materiali proiettati
den herumfliegenden Metallreifen

relazioni umane per accelerare i tempi
"human relations" zur Beschleunigung des Arbeitstempos

esposizione operaia
Ausgesetztsein der Arbeiter

a cadute
dem Herunterstürzen

a luci abbaglianti
den blendenden Lichtern

a corrente ad alta tensione
dem Hochspannungsstrom

quanti MlNUTI/UOMO per morire?
wie viele Minuten pro Mensch um zu sterben?

2 (ohne Text)

3 GIRO DEL LETTO

e non si fermano                  MANI di aggredire
und (die Hände) hören nicht auf die Hände zu greifen

ININTERROTTI                    che vuota le ore
ununterbrochen                  die (dem Körper) Stunden entleert

al CORPO                                          nuda afferrano
dem Körper                                     nackt ergreifen

quadranti, visi:                     e non si fermano
Zifferblätter, Gesichter        und sie hören nicht auf

guardano       GUARDANO   occhi fissi:                  occhi               mani
sehen                         sehen                         starre Augen                        Augen                        Hände

sera                                       giro deI letto
Abend

tutte le mie notti                  ma aridi orgasmi
alle meine Nächte                aber trockene Orgasmen

4 TUTTA LA CITTA

TUTTA la citta           dai morti                   VIVI
die ganze Stadt         von den Toten          Lebende

noi                  continuamente                     PROTESTE
wir                 unaufhörlich                                    protestiert

la folla cresce parla del MORTO
die Menge wächst, spricht vom Toten

la cabina detta TOMBA
die Kabine, die man Grab nennt

tagliano i tempi
die Zeiten werden zerstückelt

fabbrica come lager
Fabrik wie Konzentrationslager

UCCISI
Getötete

5 (FINALE)

passeranno i mattini
vergehen werden die Morgen

passeranno le angosce
vergehen werden die Ängste

non sarà co si sempre
es wird nicht immer so sein

ritroverai qualcosa
du wirst etwas wiederfinden

 

"La fabbricca illuminata" gliedert sich in fünf Teile, deren zweiter rein "instrumental" ist. Die Texte für die Teile eins, drei und vier, für deren Kompilation Guiliano Scabia verantwortlich war, basieren auf einem 1962 erschienenen Buch über die Lebens- und Arbeitsbedingungen italienischer Fabrikarbeiter. Der Text des fünften Teiles stammt von Cesare Pavese.

Zur Genese des Textes schreibt Guiliano Scabia: "Der Text entstand aus einer Reihe von Fassungen, die sich nach und nach den Forderungen der musikalischen Gestaltung anpassten. Das Verhältnis zwischen Wort und Musik wurde also nicht dadurch gelöst, dass ein Text für die Musik verfasst wurde, sondern durch die Vorbereitung des linguistischen Materials, das in verschiedener Weise gegliedert wurde unter Verwendung von Fabrik-Jargon, Zitaten aus Arbeitsverträgen und in der Fabrik gesammelten politischen Definitionen. Die endgültige musikalische Fassung wurde zugleich auch zum endgültigen Ergebnis des sprachlichen Materials." Die Arbeit am Text war so entscheidend von musikalischen Erwägungen mitbestimmt. Aspekte der phonetischen Struktur dienten ebenso als Ordnungsprinzip wie solche der Sprachmelodie.

Wie sich aus dem Bericht, den die Sängerin der Uraufführung, Carla Henius, gibt, ersehen lässt, stand am Anfang der musikalischen Komposition die theatralische Vorstellung: Die Sängerin, die allein auf der Bühne steht, wird mit den Klängen aus dem Lautsprecher konfrontiert.

Ein der Textgewinnung ähnlicher Prozesscharakter lässt sich für die Erarbeitung der musikalischen Form, soweit wir Einblick haben, konstatieren. Carla Henius berichtet, wie sie - teils nach Vorgaben Nonos, teils improvisierend - die verschiedenartigsten Interpretationen des Textes auf Band gesungen und gesprochen habe. Dieses schon "musikalisierte" Rohmaterial wurde dann von Nono zur endgültigen Form weiterverarbeitet, ohne dass uns über diesen - entscheidenden - Prozess der Auswahl und Entscheidung jedoch Nachrichten vorlägen. Ähnliches gilt für die Chöre, die durchaus nicht improvisiert sind, sondern schon in ihrer Grundschicht streng zwölftönige Kompositionen sind, die dann um ein weiteres verarbeitet werden.

So betrachtet, bilden die Geräusche nur eine Schicht der Komposition, die oftmals zudem eher akzidentiellen Charakters ist. So verwundert es nicht, dass Nono das utopische Moment des fünften Satzes der Singstimme allein anvertraut.

Doch stellen die reinen Geräuschpassagen sicher nicht den Schwerpunkt der Komposition dar. "La fabbricca illuminata" ist in erster Linie eine Sprachkomposition, eine Komposition über Sprache, aber auch eine Komposition der Sprache selber. Die elektroakustischen Mittel werden benutzt, um diese Intention zu verstärken.


zurück zur Programmübersicht Inventionen 1986