INVENTIONEN'86                                                                                              Mittwoch, 5.3.1986
Konzert Stockhausen Hymnen                                                                                               18:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße

KARLHEINZ STOCKHAUSEN: Hymnen (1966/67)


Elektronische und konkrete Musik (1966/67)
Regionen I - IV
vierspuriges Tonband

Schon seit mehreren Jahren hatte ich den Plan, ein größeres Werk Elektronischer, vokaler und instrumentaler Musik mit den Nationalhymnen aller Länder zu komponieren. 1966 begann ich mit der Realisation im Studio für Elektronische Musik des WDR. Bis jetzt sind vier Regionen mit einer Gesamtdauer von ca. 113 Minuten entstanden. Jede Region hat bestimmte Hymnen als Zentren, auf die viele andere Nationen - mit ihren charakteristischen Köpfen - bezogen sind. Die erste Region hat zwei Zentren: die Internationale und die Marseillaise. Aus einem internationalen Kauderwelsch von Kurzwellensendern entwickelt sie sich als strenge, gerichtete Form. Ich habe sie Pierre Boulez gewidmet.

Erste und zweite Region gehen ineinander über. Die Brücke ist der scharfe Flutklang, der schon zu Beginn der Marseillaise aus einem tiefen, verzerrten Ton in die Höhe gezischt war, dann die Region bis zum Ende überflog - jetzt lange ganz frei steht -, und der nach Überquerung von neun Klangsäulen (mit denen die zweite Region beginnt) herabstürzen und dabei erkennbar werden wird als menschliches Geschrei, das sich dann weiterverwandelt in Vogelkreischen - Sumpfentenbuätbuät -, Menschengejohle bis zur tiefschwarzen Marseillaise-Erinnerung im achtfach langsameren Schritt.

Die zweite Region hat weitere vier Zentren: die Hymne der Bundesrepublik Deutschland, eine Gruppe Afrikanischer Hymnen, gemischt und alternierend mit dem Anfang der Russischen Hymne, und ein subjektives Zentrum, das am Ende der kontinuierlichen Transition zwischen dem deutschen und afrikanischen unvermittelt die Zeit durchbricht, und das - als Reflexion über eine zweite deutsche "Hymne" der Vergangenheit - den Prozess der ganzen Komposition aufdeckt: Es ist die Originalaufnahme eines Momentes ,aus der Studioarbeit, worin zweite Gegenwart, Vergangenheit und Vorvergangenheit gleichzeitig werden (letzter gesprochener Satz: "Wir könnten noch eine Dimension tiefer gehen … "). Diese Region ist Henri Pousseur gewidmet.

Die dritte Region hat drei Zentren. Sie beginnt mit der langsamen, jetzt ungemischten Fortsetzung der Russischen Hymne, die als einzige ganz aus elektronischen Klängen gemacht wurde, mit der größten harmonischen und rhythmischen Expansion, die ich bis heute komponiert habe. Die Amerikanische Hymne folgt als zweites Zentrum, das die buntesten Beziehungen - in flüchtigen Collagen und pluralistischen Mixturen - zu allen anderen Hymnen hat. Der letzte Kurzwellenklang pfeift "in a few seconds across the ocean" und mündet ins exaltierte Zentrum der Spanischen Hymne. Die dritte Region dauert ca. 24 Minuten. Sie ist John Cage gewidmet.

Die vierte Region hat ein Doppelzentrum : die Schweizer Hymne und eine Hymne, die dem utopischen Reich der Hymunion in der Harmondie unter Pluramon zugehört und die längste und eindringlichste von allen ist: Aus dem Schlussakkord der Schweizer Hymne zu einem ruhig pulsierenden Bass-Ostinato gebildet, über dem sich gigantische Blöcke, Flächen und Bahnen konzentrieren, in deren Klüfte Namen mit ihren vielen Echos gerufen werden. Die vierte Region dauert ca. 32 1/2 Minuten und ist Luciano Berio gewidmet.

HYMNEN für Rundfunk, Fernsehen, Oper, Ballett, Schallplatte, Konzertsaal, Kirche, im Freien…. Das Werk ist so komponiert, dass verschiedene Drehbücher oder Libretti für Filme, Opern, Ballette zu dieser Musik verfasst werden können. Die Anordnung charakteristischer Teile und die Gesamtdauer sind variabel. Es können - je nach den dramatischen Erfordernissen - Regionen verlängert, hinzugefügt oder weggelassen werden.

Nationalhymnen sind die bekannteste Musik, die man sich vorstellen kann. Jeder kennt die Hymne seines Landes und vielleicht noch einige andere, wenigstens deren Anfänge.

Integriert man bekannte Musik in eine Komposition unbekannter, neuer Musik, so kann man besonders gut hören, wie sie integriert wurde: untransformiert, mehr oder weniger transformiert, transponiert, moduliert usw. Je selbstverständlicher das WAS, umso aufmerksamer wird man für das WIE.

Natürlich sind Nationalhymnen mehr als das: sie sind "geladen" mit Zeit, mit Geschichte - mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie betonen die Subjektivität von Völkern in einer Zeit, in der Universalität allzu sehr mit Uniformität verwechselt wird. Subjektivität - und Wechselwirkungen zwischen musikalischen Subjekten - muss man auch unterscheiden von individualistischer Absonderung und Trennung. Die Komposition HYMNEN ist keine Collage.

Vielseitige Wechselwirkungen sind auskomponiert zwischen verschiedenen Hymnen untereinander sowie zwischen diesen Hymnen und neuen abstrakten Klangformen, für die wir keine Namen haben.

Zahlreiche kompositorische Prozesse der Inter-Modulation sind in den HYMNEN angewandt worden. Zum Beispiel wird der Rhythmus einer Hymne mit der Harmonik einer anderen Hymne, das Ergebnis mit der Lautstärkekurve einer dritten Hymne, dieses Ergebnis wiederum mit der Klangfarbenkonstellation und mit dem melodischen Verlauf elektronischer Klänge moduliert, und schließlich wird diesem Ergebnis noch eine räumliche Bewegungsform aufgeprägt. Manchmal werden Teile einer Hymne roh, nahezu unmoduliert, in die Umgebung elektronischer Klangereignisse eingelassen, manchmal führen Modulationen bis an die Grenze der Unkenntlichkeit. Dazwischen gibt es viele Grade, viele Stufen der Erkennbarkeit.

Außer den Nationalhymnen wurden weitere "gefundene Objekte" verwendet: Sprachfetzen, Volksklänge, aufgenommene Gespräche, Ereignisse aus Kurzwellenempfängern, Aufnahmen von öffentlichen Veranstaltungen, Manifestationen, eine Schiffseinweihung, ein chinesischer Kaufladen, ein Staatsempfang usw.

Die großen Dimensionen in Zeit, Dynamik, Harmonik, Klangfarbe, räumlicher Bewegung, Gesamtdauer und die Unabgeschlossenheit der Komposition ergaben sich im Verlauf der Arbeit aus dem universalen Charakter des Materials und aus der Weite und Offenheit, die ich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Projekt - Vereinigung, Integration scheinbar beziehungsloser alter und neuer Phänomene - erfahren habe.

EINTEILUNG des Werkes:

Die HYMNEN sind in vier REGIONEN eingeteilt. Jede Region hat mehrere ZENTREN. In jedem Zentrum ist eine Hymne oder eine Gruppe von Hymnen besonders maßgebend.

REGION I dauert von Anfang bis 27' 38"

Das 1. ZENTRUM beginnt bei 6'04,5" ("Internationale");

ein 2. ZENTRUM - VORSATZ bei 17' 41, 8";

das 2. ZENTRUM nach 21'07" ("Marseillaise");

ein 2. ZENTRUM - NACHSATZ bei 22'36,7".

Die BRÜCKE bei 26' 44,5" leitet zur REGION II über. sie hat ein ZWISCHENSTÜCK, das gesondert gemessen ist von 0-29,7".

REGION II beginnt am Ende des ZWISCHENSTÜCKS wieder mit Null und dauert 29' 25".

Eine MARSEILLAISE - ERINNERUNG beginnt bei 8' 07";

das 1. ZENTRUM bei 11'46" ("Deutschlandlied");

eine ERSTE TRANSITION bei 14' 20";

das 2. ZENTRUM bei 18' 07,3" (Studiogespräch "Otto Tomek sagte ... ");

das 3. ZENTRUM bei 20'28,3" (AFRIKANISCHE Hymnen);

das 4. ZENTRUM bei 23' 38" (UdSSR).

REGION III beginnt wieder mit Null und dauert 23' 40".

Ihr 1. ZENTRUM beginnt bei 0' 27,5" (Fortsetzung UdSSR);

das 2. ZENTRUM bei 9' 27,5" (USA "Star-Spangled Banner");

eine ZWEITE TRANSITION bei 13' 24";

eine SPANISCHE INTRODUKTION ("Sevillanas") bei 18' 43";

das 3. ZENTRUM bei 19'15,5 (SPANIEN);

eine 1. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ bei 23'08,1";
eine 2. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ bei 23'17,1";
eine 3. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ bei 23'30,8".

REGION IV beginnt wieder mit Null und dauert 31'45,3"

Eine 4. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ beginnt bei 1'00";
eine 5. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ bei 2'18";
eine 6. ANKÜNDIGUNG SCHWEIZ bei 3' 07".

Das DOPPELZENTRUM 1. Reich (SCHWEIZ) beginnt bei 3' 50";

das DOPPELZENTRUM 2. Reich (HYMUNION in der HARMONDIE) bei 9' 17, 5" ;

fortgesetzt in ATMEN bei 20'45,8";

mit

  1. EINSCHUB (Erinnerung GHANA) 21'06,9" - 21'38,4"
    (vergleiche REGION II 24' 45") ;
  2. EINSCHUB (Erinnerung UdSSR mit "Internationale") 21'53,5" - 22'19,7";
  3. EINSCHUB (Erinnerung "Internationale") 22'43,2" - 23'09,8";
  4. EINSCHUB (Erinnerung ENGLAND) 23'54,4" - 24'47"
    (vergleiche REGION II 16'15" - 17'01");
  5. EINSCHUB (INDIEN) 25'56" - 26'39,6";
  6. EINSCHUB ("chinesischer Kaufladen") 27'26" - 28'22";
  7. EINSCHUB (leerer Rahmen) 29'9,3" - 30'26,3";

und

mit      1. SIGNATUR (PLURAMON) 26'57,4"

            2. SIGNATUR 29' 28".


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                                                                                                                 Mittwoch, 5.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 Akademie der Künste

2. Akademie-Konzert

Luigi Nono Polifonica - Monodia - Ritmica (1951)
für Kammerensemble
John Cage In a Landscape (1948)
für Harfe
Earle Brown Folio (1952/53)
Eine Sammlung musikalischer Graphik / Realisation für Flöte und Klavier
Karlheinz Stockhausen Klavierstück XII (1979-83)
***
Gerald Humel Die Folterungen der Beatrice Cenci (1971)
Konzertfassung des Balletts

Karin Schmeer  (Harfe)
Eberhard Blum  (Flöte)
Marianne Schroeder, Bernhard Wambach  (Klavier)
Gregory Riffel  (Schlagzeug)
Kammerensemble unter der Leitung von Gerald Humel

LUIGI NONO: Polifonica - Monodia - Ritmica

Mit den "Kanonischen Variationen über die Reihe des Op. 41 von Arnold Schönberg" für Orchester trat Nono 1950 erstmals in Darmstadt auf. Zwei Dinge sind bei diesem zwanzigminütigen Werk bemerkenswert: Es geht von einem musikalischen Objekt, der Reihe von Schönbergs "Ode to Napoleon Bonaparte" aus, und es verwendet alte Formprinzipien: Kanon und Variation. Diesen doppelten Ausgangspunkt wird man bei Nono immer wieder finden, so auch in "Polifonica - Monodia - Ritmica" für sechs Instrumente und Schlagzeug (1951). Der Titel benennt sachlich drei Satzweisen : Der erste Satz (Adagio/ Allegro) beginnt, wohl von Weberns op. 21 angeregt, mit einem vierstimmigen Doppelkanon, der laufend dichter wird, da die einzelnen Stimmen immer weniger Pausen zwischen den einzelnen Tönen aufweisen. Gleichzeitig beruht aber dieser Kanon auch auf einem vorgegebenen musikalischen Objekt, dem Gesang eines brasilianischen Indios. Im Allegro-Teil wird ein dreiteiliges Thema in 46 verschiedenen Variationen geradezu systematisch durchgeführt. - Der zentrale Satz ist eine langgezogene Gesangslinie der Bläser mit Kontrapunkten im Schlagzeug, in denen ein Varèse-Zitat als Hommage an den Komponisten versteckt ist. - Der letzte Satz für Schlaginstrumente, die "Ritmica", ist wieder kanonisch angelegt: der Rhythmus-Satz ist also gleichzeitig wie der erste eine "Polifonica".

JOHN CAGE: In a Landscape

"In a Landscape" gehört zu den Werken von Cage, die durch seine Zusammenarbeit mit der "Merce Cunningham Dance Company" entstanden sind.

Das Werk wurde für einen Solotanz von Luise Lippold geschrieben und benutzt dessen rhythmische Struktur als Grundlage.
Die Uraufführung fand am 18. Mai 1952 in New York statt.

EARLE BROWN: Folio

"Folio" besteht aus einer Mappe mit musikalischen Graphiken, die sich von herkömmlichen Notationssystemen wesentlich unterscheiden.

Seit ihrer Entstehung gehören diese Blätter im Zusammenhang mit Notationsfragen neuerer Musik wahrscheinlich zu den meistabgebildeten und -besprochenen Partituren. Legenden haben sich um Aufführungen und Realisationen gerankt. Theoretiker gegensätzlichster Denkungsart zitieren "Folio", um ihre jeweiligen Ansichten zum Thema "Musik und Graphik" zu untermauern.

Oft muss der Titel dieses Werkes herhalten, wenn Ausführende versuchen, statt des Werkes sich selber oder Unnützes in Szene zu setzen.

1964 sagte Earle Brown in einem in Darmstadt gehaltenen Vortrag:
"Dieses Notationsproblem, auf das ich 1952 gestoßen war, führte mich nicht nur dazu, eine Notation zu finden, die meiner musikalischen Sprache im technischen Sinne angemessener war, sondern auch zur Entdeckung des "graphischen" Potentials, um die Probleme der "Beweglichkeit" und Unmittelbarkeit zu behandeln, die mich seit dem Einfluss, den etwa um 1948 Calder und Pollock auf mich ausübten, außerordentlich interessierten. Für mich musste die Beweglichkeit (oder Veränderlichkeit) eines Werks während der Aufführung dieses Werks aktiviert werden (eben wie in einem Mobile von Calder), sie musste spontan und intensiv durch den Ausführenden ausgedrückt werden, ganz wie in der Unmittelbarkeit des Kontaktes zwischen Pollock und seinen Leinwänden und Materialien. Diese beiden Elemente: Beweglichkeit der Klangbestandteile innerhalb des Werks und graphische Provokation einer intensiven Mitarbeit des Ausführenden waren für mich die faszinierendsten neuen Möglichkeiten für "Klangobjekte" analog zur Skulptur und Malerei. Die Notwendigkeit neuer graphischer Darstellungsmittel ist evident.

Die Kompositionen "Folio" (1952-53) und "Twenty Five Pages" (1953) waren meine ersten Versuche, diese beiden Einflüsse in wechselseitige Beziehung zueinander zu setzen und das Wesentliche ihrer Implikationen im Klang zu realisieren. Der faszinierendste Aspekt war die mehrdeutige Relation zwischen Künstler und Werk und das feine Auswägen zwischen subjektivem und objektivem Kontakt mit dem Werk, welches dabei gefordert wurde; desgleichen zwischen Freiheit und Kontrolle, zwischen expliziten und impliziten Notationen und zwischen der kompositorischen Notwendigkeit und der Aufführungsrealität als einem intimen Prozess der Zusammenarbeit.

Warum wird nicht gelernt und beherzigt, dass Kunst eine Exploration der Erfahrung, der Kommunikation und der Bedeutung ist. Stets wird nach Individualität und Originalität geschrien, aber bei der ersten Spur davon wendet sich das Geschrei plötzlich gegen Nihilismus, fehlende Werte, Anti-Kunst, Sensationsgier. Ich nehme an, dass wir es hier mit dem Unterschied zwischen der menschlichen Natur und dem menschlichen Geist zu tun haben. Der menschliche Geist erkennt den Wandel als die wesentliche Natur des Lebens an, aber die menschliche Natur ist unsicher und sucht nach Schutz."

 

KARLHEINZ STOCKHAUSEN: Klavierstück XII

"KLAVIERSTÜCK XII, Examen vom DONNERSTAG aus LICHT, ist die Fassung für Klavier allein der 3. Szene vom 1. Akt MICHAELs JUGEND der Oper DONNERSTAG aus LICHT. Die Originalfassung ist in einer separaten Partitur veröffentlicht _ unter dem Titel EXAMEN, für Tenor, Trompete, Tänzer/Bassetthorn, Klavier / Jury: Sopran, Bass, 2 Tänzer-Mimen als Sprecher /2 Tonbänder."

"1983 habe ich 'Pour le Printemps Musical de Vernier' dieses EXAMEN als Klaviersolo neu geschrieben. Es reiht sich ein in den bisher komponierten Zyklus meiner Werke für Soloklavier als 1 KLAVIERSTÜCK XII. Ich habe es meiner Tochter Majella gewidmet, die seit ihrem 16. Lebensjahr mit mir zusammenarbeitet." (Stockhausen)

LICHT ist ein Zyklus von 7 Opern mit Wochentagnamen, von denen jetzt DONNERSTAG und SAMSTAG vollendet sind. Beide wurden in Mailand (Scala und Palais des Sports) uraufgeführt. In SAMSTAG ist KLAVIERSTÜCK XIII unter dem Namen LUZIFERS TRAUM (1981) enthalten.

Im KLAVIERSTÜCK XII spielen zum ersten Mal im Zyklus der Klavierstücke neben dem Spiel auf den Tasten auch das Spiel im Inneren des Flügels sowie vokale Aktionen und Geräusche des Pianisten eine Rolle. Dadurch entstehen Zwischenformen zwischen klaren Tonstrukturen (Klang) und Pause (Stille): Gefärbte Stille - Pausen, die durch Geräusche oder Klanggeräusche belebt sind. Das Tonmaterial entstammt der sogenannten Superformel - der Überlagerung von Michaels-, Eva- und Luziferformel. Im DONNERSTAG, dem Michaelstag, steht die Michaelsformel im Vordergrund des musikalischen Geschehens.


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                                                                                                                 Mittwoch, 5.3.1986
                                                                                                                 22.15 Uhr
                                                                                                                 Kino Arsenal

Film
"Ein Sechstel der Erde"  (UdSSR 1926)
(Schestaja Tschastj Mira)
Regie: Dsiga Wertow

 

Peter Weibel: aus
"Eisensteins und Wertows Beiträge zu einer Artikulation der Filmsprache"
Wertows Filmschrift

Die Fraktionierung von Raum und Zeit, der Objekte und Handlungen, durch Großaufnahme, Halbnah, Totale etc., und Schnitt gehören zu den frühesten rein kinematographischen Techniken und zu den wenigen noch, die bis in die Gegenwart des narrativen Kinos reichen, denn sie sind fundamentale Methoden, die Dinge in Zeichen zu verwandeln. Wertow hat dies erkannt: "Den Inszenierungen des amerikanischen Pinkertonfilmwesens hat der Kinok die raschen Bildwechsel und die Großaufnahmen zu danken." Anders als Eisenstein hat er jedoch "das Psychologische als Behinderung, sich mit der Maschine zu verschwistern ", gesehen. Im 'Wir '-Manifest schreibt er: "Wir schließen von Zeit zu Zeit das Objekt Mensch von den Filmaufnahmen aus

wir entdecken die Seelen der Maschinen." "Die Poesie der Maschinen" war sein Ziel und der Film die schönste Maschine. Daher suchte er bei seiner Kunst "nach dem Wesentlichen ihrer Technik" und sprach von "Filmlänge, Art der Bewegung, Koordinatensystem des Bildstreifens usw." 1922 bereits, in seinem 'Wir '-Manifest gegen die theatralische Kinematographie, formulierte er ein Axiom des formalen Films: "Material - künstlerische Elemente der Bewegung - sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zur anderen), aber nicht die Bewegung selbst. Sie (die Intervalle) führen auch die Handlung zur kinetischen Lösung. Die Organisation der Bewegung ist die Organisation ihrer Elemente, das heißt der Intervalle innerhalb einer Phrase. Das Werk baut sich aus den Phrasen auf, so wie die Phrase sich aus den Intervallen der Bewegung aufbaut." Beinahe unfassbar, mit welcher Präzision hier folgerichtig als Element der Artikulation der Bedeutung nicht der Kader, sondern das Intervall zwischen zwei Kadern definiert wird. Die Organisation solcher Bedeutungseinheiten, Artikulationseinheiten, ist eine Phrase. Wir sehen, Wertow hat sich von der fundamentalsten Illusion des Films, der Illusion der Bewegung, abgekehrt und ist in die pure Materialität des Films vorgedrungen, dabei hat er bestimmte semantische Probleme endgültig definiert. 1953 schreibt er in sein Tagebuch (hier und im weiteren: Dsiga Wertow "Aus den Tagebüchern." Österreichisches Filmmuseum, Wien 1967, S. 150): "Eine ganz andere Aufgabe steht vor Ihnen, wenn das Thema kompliziert ist und Sie für seine Gliederung nur vereinzelte Kader gebrauchen können, die, nebeneinandergereiht, nicht mehr sind als Buchstaben des Alphabets. Sie müssen aus den Buchstaben Worte bilden, aus den Worten Phrasen, aus den Phrasen Artikel, Abrisse, Gedichte und so weiter. Das ist nicht mehr Montage, sondern Filmschrift ! Das ist die Kunst, mit den Filmkadern zu schreiben. Hier begegnen wir einer höheren Art der Organisation des Filmmaterials. Die Kader treten zueinander in eine organische Wechselbeziehung, sind unter den gleichen Bedingungen vereinigt, bilden einen kollektiven Körper, einen Überfluss an Energie freilegend."

Diese "Suche nach dem Kinogramm" (Wertow) geschah jedoch nicht allein "um der Schaffung des Filmalphabets willen, sondern um die Wahrheit zu zeigen. In Wertows Problemstellung (und gute Künstler sind allemal Problemsteller und -löser), "wie kann man die einzelnen Stücke der Wahrheit so schneiden, so anordnen, so zusammenstellen .. dass jeder montierte Satz und das Werk in seiner Gesamtheit uns die Wahrheit zeigen" (Tagebücher, S. 26), wird ja nicht nur die Frage nach einer Theorie der Artikulation von Bedeutung, sondern auch die Frage nach der Wahrheit dieser Bedeutung gestellt. Die montierten Kader sollen wahre Aussagen über die Wirklichkeit machen. Daher verneint er Schauspieler, versteckt er seine Kamera, negiert er die Inszenierung. Er möchte das Faktische pur, unmanipuliert. Doch die Sehnsucht nach der Faktographie kollidiert mit der Filmschrift. Betont Wertow einerseits immer wieder die Mechanismen der Filmmaschine, die analytische Operation durch die Montage der Intervalle, mit einem Wort den Zeichencharakter der kinematographischen Bilder, so glaubt er andererseits immer wieder, dass es möglich sei, das Leben ungestört aufzunehmen, die Wirklichkeit, wie er sie antrifft, mit seiner Kamera nicht zu verändern: "Ins Leben stürzen, in den Strudel des Sichtbaren, wo alles Wirkliche ist, so, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht ... Du musst dich so anpassen, dass du deine Studien treibst, ohne jemanden zu stören" (aus den Tagebüchern, S. 16, 17). Dieser tiefe Widerspruch offenbart sich auch im von Wertow selbst gewählten Terminus für seine Filme: "poetischer Dokumentarismus". Denn die Poesie zeichnet sich ja zum Beispiel gegenüber der romanesken oder beschreibenden Prosa dadurch aus, dass sie das sprachliche Medium, die Eigengesetzlichkeit der Sprache in den Mittelpunkt stellt, während in der Prosa die sprachlichen Verfahrensweisen zugunsten des Inhalts der Rede in den Hintergrund treten, der Dokumentarismus also beabsichtigt, die Realität möglichst ungestellt und unverstellt von den Mechanismen der Abbildungsmaschine darzustellen. Doch ohne dass er es offensichtlich wahrhaben wollte, hat Wertow der Poesie stets den Vorrang gegeben. Die bloße phänomenologische Wahrnehmung würde die Wahrheit über die Wirklichkeit noch nicht entlassen. Insofern musste er seine Wahrheit 'Kino-Wahrheit' (Kino-Prawda) nennen, nämlich die mit den Mitteln der Filmmaschinerie, mit den Mitteln der Montage, der Intervalle von Kadern usw. hergestellte Wahrheit. Nicht durch bloßes Abfilmen, sondern durch die spezifischen Verfahren des Mediums nahm seine Wahrheit Gestalt an. Darüber hinaus wusste er selbst, dass die Wirklichkeit nicht nur das Sichtbare ist. Die Allianz von Poesie und Analyse erst artikuliert die Wahrheit. Deswegen heißt es bei ihm: "Majakowski ist Kinoglas (Das Kinoauge). Er sieht das, was das Auge nicht sieht." Anders gesprochen: Die Wahrnehmungsrealität allein konstituiert nicht die Bilder der Wahrheit, sondern das Kino-Auge, die Medienrealität, ist das wesentliche, es sieht mehr. Nicht das, was Wertow wahr schien, ist wichtig geworden, wobei erwähnt werden darf, dass einem heutigen Beobachter viele dieser sogenannten Wahrheiten nicht die damalige Wirklichkeit, sondern die damalige Ideologie widerzuspiegeln scheinen, sondern die Arbeitsweise, die Verfahren, mit denen er seine 'Wahrheiten' zu artikulieren versuchte.

Wertows Medienrealität

ist die "Diktatur des Fakts", die unter den Balken einer Diktatur des Zeichens gefallen ist, so dass oft Objekt und Zeichen, Faktisches und Formales zusammenfallen. In der 'Leninska Kino-Prawda' (1925) wird vor den Trauerzug der Bevölkerung am Grabe Lenins "ein Meter schwarzer Klebestreifen" (Wertow) einmontiert. Der Tod Lenins wurde durch Trickaufnahmen in der Art des Absoluten Films vorbereitet (bewegliche abstrakte Figuren etc.). Ein exemplarischer Beleg dafür, dass Wertow die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern mit Hilfe des Mediums Film ein Bild von der Wirklichkeit konstruiert, ist in der Tatsache zu sehen, dass die gleichen Aufnahmen in verschiedenen Filmen mit verschiedenen Bedeutungen auftauchen. Ein Zug, auf dem Neger hocken, dient in einer Kino-Prawda zur Verdeutlichung der Kolonial-Herrschaft. Die gleiche Einstellung bedeutet in 'Der sechste Teil der Erde' (1926) die Völkerfreundschaft der Sowjetunion, usw. Dies erinnert nicht umsonst an das Experiment von Kulechow. Ginge es Wertow in der Tat um die faktische, sozusagen beweiskräftige Authentizität von Aufnahmen, dürfte jede Einstellung nur die gleichbleibende bestimmte historische Bedeutung haben. Aber offensichtlich verwendet Wertow die Einstellung wie Wörter, und wie diese in Verkettung mit anderen Wörtern neue Bedeutungen annehmen und neue Aussagen bilden können, so verfährt Wertow mit den Einstellungen als Variable (Symbole). Sie sind das endliche Alphabet einer Filmsprache, mit der er unendlich viele Aussagen erzeugt. Er scheut dabei keine technischen Verfahren und Tricks jenseits aller planen Realität. Zum Beispiel demonstriert ein Kopiertrick die Macht und Kraft der Arbeiterklasse: auf einer geteilten Leinwand ist oben ein hämmernder Arbeiter zu sehen und unten die Kuppel eines Berges, so dass der Eindruck entsteht, ein riesiger Mann hämmere auf die Erdkugel (in 'Das Elfte' /Odinnadcatyj, 1927-28). Oder: durch die Montage von Sprengungen knapp hintereinander entsteht der Eindruck einer 'permanenten Sprengung'. Sicherlich weit von der Realität entfernt sind auch Szenen wie in 'Drei Lieder über Lenin' (1934), die Eskimos zeigen, wie sie sehnsüchtig aufs Meer schauen, und der Zuschauer schließlich erfährt, dass sie auf den Dampfer mit der Schallplatte 'Lenin selbst' gewartet haben.

All die Widersprüchlichkeiten treten nur auf, wenn man die Filme Wertows aus den zwei Perspektiven betrachtet, die er selbst vorgeschlagen hat, die Faktographie und das Filmogramm. Diese Widersprüche sind aber rein ideologischer Natur, sie verschwinden, wenn man Wertows Wunschdenken (und das seiner Nachfolger) beiseite lässt und sich auf Wertows Arbeitsweise konzentriert. Denn dann, bei genauerem Studium, dem seine politischen Liebhaber sich nicht unterzogen haben, sieht man, dass bei jener Passage vom Ding zum Zeichen, die der Ort des Films ist, seine Ausgangsbasis nicht die 'Wirklichkeit', sondern das Filmmaterial war. Durch die Analyse des vorgegebenen und geschaffenen Filmmaterials bis in den einzelnen Kader hinein nach verschiedenen Parametern wie Bewegungsart-, richtung, Geschwindigkeit, Tonwert usw., erkundete er alle möglichen semantischen Aspekte und konstruierte daraus die beabsichtigte Mitteilung über die 'Wirklichkeit'. Er schuf eine Realität, die nur im Medium existierte, eine von der Wahrnehmungswelt relativ differenzierte Medienrealität. Indem er immer wieder die Operatoren des Films wie Kamera, Objektiv, Kameramann etc. bei ihren Tätigkeiten selbst ins Bild brachte, indem er den Film am Schneidetisch und als Film im Film im Kinosaal zeigte, wie am auffallendsten in seinem Film 'Der Mann mit der Kamera' (1929), wollte er durch diese Verweise auf die Unterschiede von Wahrnehmungs- und Medienrealität nicht nur die Materialität und Machbarkeit des Films, sondern auch die der damit konstruierten Realität zeigen. Hatte er am Anfang noch gehofft, "seine Studien so zu treiben, ohne jemanden zu stören", sieht man nun, was de facto der Fall ist, wie die Kamera die Realität verändert:
Arbeiter fahren mit einem Karren auf den Bildvordergrund zu, plötzlich treten sie zur Seite. In der nächsten Einstellung sieht man warum: der Mann mit der Kamera lag am Boden und die Arbeiter wichen ihm aus. Oder man sieht eine Linse, wie sie in den Unschärfebereich gedreht wird, dann sieht man ein Unkraut, das unscharf wird. Die abbildende Apparatur ist nicht ohne Einfluss auf das Abzubildende, das Band zwischen signans und signatum ist nicht zufällig, es beeinflusst das denotatum. Diese selbst-reflexiven Filmsequenzen, deren Aktualität vielleicht erst heute beginnt, zeigen, wie Denken und Verhalten eines Interpreten durch eine künstlich konstruierte/artikulierte Bedeutung beeinflusst werden. Allgemeiner, die Reflexion über das Medium, über die Machbarkeit (und Manipulierbarkeit) der medialen Realität, ist auch eine Reflexion über die Machbarkeit jeder anderen Realität.

In seinem zweiten Meisterwerk 'Don bass-Symphonie, (1930) hat Wertow die seit seiner letzten Kino-Prawda, der 'Radio-Kino-Prawda' (1925), entstandene Theorie vom Radio-Ohr (analog zum Kino-Auge) praktiziert. Indem er die gleichen semiotischen Verfahren, die er aus seinen Kader-Sequenzen entwickelte, auch auf die Ton-Sequenzen anwandte, die er in ihrem Ablauf simultan oder kontrapunktisch zu den Bild-Sequenzen komponierte, gewann er ein vollständiges Ton-Bild-Alphabet, wo nicht nur die Intervalle zwischen Kadern und die einem Kader vorangehenden 'Oder nachfolgenden Kader den Sinn einer filmischen Einheit bestimmten, sondern ebenso der gleichzeitige oder vorangehende oder nachfolgende Ton. Kleinste Bild- und Ton-Einheiten, mit denen Bedeutung artikuliert wird. Die bislang allgemein ziemlich unbekannten Arbeitsnotizen von Wertow zeigen, wie er bis ins Detail hinein Methoden und Verfahren des seriellen oder strukturalen Films vorweggenommen hat, und wie weit er sich vom einst postulierten Dokumentarismus entfernt hat.

Aus: "Film als Film". Hrsg. v. Birgit Hein und Wulf Herzogenrath, Stuttgart: s.a., S. 99-102


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