Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 16.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance
Dieter Schnebel                              GLOSSOLALIE 61 (1959-61)
für Sprecher und Instrumentalisten

Katharina Rasinski, Frank Berger, Uwe Kany (Sprecher)
Axel Bauni, Adelheid Klemm, Günther Schaffer, Gerd Thul (Instrumentalisten)
Leitung: Mirjam Sohar

DIETER SCHNEBEL: GLOSSOLALIE (1959-60)

für Sprecher und Instrumentalisten
Die Definition des Stückes ist auf 29 Blättern (Materialpräparationen) fixiert. Jede Präparation definiert einen besonderen Prozess (z.B. "kontraste", "verwicklungen", "fortsetzungen", "einfälle", "oppositionen" etc.) mit Hilfe von möglichen Parameterwerten des verwendeten Materials, der Quantifizierung dieser Parameterwerte, der Aktionsdirektive, die angibt, wie man die Ereignisse und ihre Parameterwerte zu disponieren hat. Material ist zum einen Gesprochenes aller Art, das losgelassen und als Musik genommen wird, zum anderen vielfältiges Instrumentalspiel, das gewissermaßen redet: Melodien fremder Sprachen, Polyphonien erregter Diskussion, hochtrabende, auch nichtssagende instrumentale Phrasen. Derartiges soll sich begegnen, ineinander geraten, sich abstoßen. Dann ereignete sich Zungenreden, Glossolalie: Sprache wie Musik machten sich selbständig.

GLOSSOLALIE 61 (1960-61)

für 3-4 Sprecher und 3-4 Instrumentalisten
Ausarbeitung des Projekts glossolalie in Form einer vierteiligen Quasi-Sinfonie. Sprecher und Instrumentalisten reflektieren ständig auf das eben Vergangene, auf das aller Wahrscheinlichkeit noch zu Erwartende. Im zweiten der vier Teile (im Epilog) fungiert einer der Sprecher als Dirigent, Komponist, Kommentator und Analytiker in einer Person. Die Partitur verzeichnet zahllose Sprachen und Schriften, Zitate aus alltäglichen und klassischen Texten, älteste und modernste Notationen, fixiert jeden Schritt und jede Geste der szenischen Darbietung.

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                                                                                                                 Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 17.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Produktionen des Hessischen Rundfunks Frankfurt,
des EMS Stockholm, und des Studios der Musikakademie Basel

Clarenz Barlow Deutscher Sang (1982)
zweispuriges Tonband (HR)
David Johnson Of Burning a Candle (1985)
zweispuriges Tonband und Diaprojektion (Basel)
Bengt Emil Johnson Through the Mirror of Thirst (2nd passage) (1969)
zweispuriges Tonband (EMS)
Sten Hanson The Glorious Desertation (1969)
zweispuriges Tonband (EMS)
Lars Gunnar Bodin For Jon III (1982)
zweispuriges Tonband (EMS)

DAVID C. JOHNSON: Of Burning a Candle

"Of Burning a Candle" (vom Kerzenbrennen) nennt sich "ein kleines Stück konkreter Poesie". Das fertige Werk besteht aus einem Heft und einem Tonband.
Das Heft hat vier Seiten:

  1. Titelblatt mit Foto meines am 8.1. 85 verstorbenen Vaters;
  2. Textseite, vom Computer mitgestaltet;
  3. Foto einer gebogenen, brennenden, reflektierten Kerze;
  4. Foto derselben, nicht brennenden Kerze, zusammen mit einer anderen (überlebenden) Kerze, sowie mit (in Spiegelscherben und Fensterglas reflektiert) dem Komponisten/Fotografen und (durch das Fensterglas sichtbar) seiner schwangeren Frau (Überlebenden meines Vaters).

Die Tonbandmontage baut sich in Schichten auf:
In der Grundschicht sagt meine Stimme das Werk und seine höheren Schichten an.
Zwei Telefonanrufe meiner Mutter, die vom Anrufbeantworter aufgenommen wurden, "Papa wird wahrscheinlich sterben" (7.1.85) und "Papa ist heute früh gestorben" (8.1.85), bilden die zweite Schicht, sowie das Grundmaterial für noch höhere Schichten.
Aus Geräuschen vom Telefon wurde mit Hilfe des Computers eine rhythmische, Schicht gestaltet: die 15-schlägige indische Tala "Pancham Savari" unterstreicht den rituellen Aspekt des Werkes.
Aus meinem und meines Vaters Spitznamen ("Dave, Dad") wurde eine zweistimmige Invention gestaltet und mit der Rhythmusschicht synchronisiert.
Darüber wurde die erste Botschaft ("Dad is not going to make it, I'm afraid"), analog einer brennenden Hoffnungskerze, wiederholt gekürzt.
Zum Schluss wurde die zweite Botschaft ("Dave, Dad died early this morning … ") von den zwei Strophen eines kleinen Gedichtes umrahmt.
Dauer des Tonbandes: knapp zehn Minuten.


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                                                                                                                 Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 18.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Gerhard Rühm Kleine Geschichte der Zivilisation (1979)
für Klavier und Tonband
Melodramen vom deutschen Wald mit einem Abgesang nach Robert Schumann (1983)
1) Waldwanderer
2) Baumsterben
3) Abschied vom Walde
Erinnerung und Gegenwart (1984)
für Klavier, einen Sprecher und Dias
Pornophonie (1983)
Tondichtung für Klavier
Kitzel zwischen Käse und Kuchen, eine Völlerei (1984)
für einen Sprecher und 20 Sektgläser

GERHARD RÜHM:

kleine geschichte der zivilisation

ist ein (unter dem titel 'atemland ' auch selbständig aufführbares) klavierstück mit simultan ablaufendem tonband im mittelteil. das klavierstück beschreibt ein harmonisch und rhythmisch kaleidoskopartiges kreisen um eine sich ständig wiederholende, auf sechs oktaven ausgebreitete ganztönige intervallkonstellation. es wird in ruhigem tempo und sehr mäßiger lautstärke vorgetragen, hat also meditativen charakter und symbolisiert hier gewissermaßen "das ewige (zyklische) weben der natur", das tonband ist nun kein integrierter bestandteil der komposition, sondern ein regelrecht nebenherlaufender störfaktor, der schließlich so dominant wird, dass er den klavierpart völlig überdeckt. es transportiert anfangs vereinzelte, bald aber immer dichter aufeinanderfolgende start- und fahrgeräusche von automobilen, die sich in rasch zunehmender vervielfältigung zum unausbleiblichen eklat hochkatapultieren : alles kracht in einer massenkarambolage zusammen und geht scheppernd zu bruch. in der darauffolgenden geräuschstille wird die musik wieder hörbar, wie ein unbeirrbares kontinuum ohne anfang und ende - nach etwa 18 Minuten gesamtdauer führt das stück wieder zu seinem anfang zurück (womit es hier schließt). 'kleine geschichte der zivilisation' hat also, auffällig genug, so etwas wie eine handlung, wenn auch eine sehr lapidare, paradigmatische. darum möchte ich dieses stück als 'hörspiel' bezeichnen, und das ist es sogar im üblichen sinn - ein hörspiel allerdings, das keiner worte bedarf, dessen "geschichte" in der konfrontation von musik und geräusch unmittelbar sinnfällig wird.

melodramen vom deutschen wald

der text basiert auf zeitungsberichten. ihre nüchternen feststellungen werden durch den klavierpart rhythmisch akzentuiert und, der wirkung von musik gemäß, emotional aufgeladen. der rhythmische verlauf des klavierparts folgt durchweg dem sprachgestus. während die konsonant-ton-zuordnung des zweiten stückes aus einer lagenverschiebung (teilweise auch umkehrung) jener des ersten gewonnen ist, so geht die beiden melodramen gemeinsame zuordnungsreihe der vokale auf das abschließende schumann-lied zurück, dessen zweite strophe förmlich versickert, indem wiederkehrende töne sukzessiv ausfallen, gesungenes dann gesprochen wird.
die bei den melodramen 'waldwanderer' und 'baumsterben ' sind auch bestandteile meines hörspiels 'wald, ein deutsches requiem', das ich im september 1983 im westdeutschen rundfunk köln realisiert habe (hörspielpreis der kriegsblinden 1983).

erinnerung und gegenwart. musik nach einem brentano-gedicht zu einer zeitungsnotiz mit nachspiel

der titel 'erinnerung und gegenwart' spielt auf den großen roman der romantik 'ahnung und gegenwart' von joseph von eichendorff an. die musik - auch wenn sie am ende (letzte strophe) zu einem aktuellen text gespielt wird - ist eine vertonung des brentano-gedichts "Es sang vor langen Jahren" (aus der 'Chronika eines fahrenden Schülers') im wörtlichen sinn: die buchstaben sind bestimmten tönen zugeordnet; durch ihre zusammenfassung in silben bleibt das metrum des gedichtes gewahrt, wie sich auch der reim und die fast trancehaft versponnene wiederkehr gewisser wortklänge - eine besondere spezialität brentanos - musikalisch vermitteln. das gedicht erscheint zeile für zeile zur musikalischen umsetzung als diaprojektion.
das kurze, codaartige nachspiel ist nach der gleichen methode wiederum aus dem gerade rezitierten zeitungstext gewonnen, wobei hier die zuordnung laut-ton im unterschied zur wohlüberlegt individuellen des brentano-gedichts schematisch der c-dur-skala folgt: das macht nach den zart schwebenden klängen der brentano-musik einen geradezu derb banalen effekt, erweckt aber zugleich den eindruck, die worte würden musikalisch noch einmal eindringlich (statt silben bilden jetzt ganze wörter klangeinheiten) ins gedächtnis gerufen.

Ruehm 1

pornophonie

ist ein text für klavier, das heißt, die buchstaben werden bestimmten tönen der klaviatur zugeordnet, wobei silben zusammenklänge bilden. auch der rhythmus des stückes (man kann hier im wörtlichen sinn von einer "tondichtung" sprechen) ist durch den zugrundeliegenden text determiniert - nämlich durch die silbenanzahl der wörter und die interpunktionen.
es ist für den hörer nicht wichtig, den originaltext zu kennen: seine fantasie soll nur vage in die durch den titel angegebene richtung gelenkt werden. interessant erscheint mir, welche rolle dabei die eigendynamik des mediums musik spielt (zensoren, durch den titel aufmerksam geworden, werden hier vermutlich schwierigkeiten haben). es sei aber verraten, dass sich die titelhälfte "phonie" auch auf den "vertonten" text selbst bezieht: er handelt von dem fall einer jungen frau (mitgeteilt in einer älteren sexualpathologischen zeitschrift), die sexuelle befriedigung ausschließlich im belauschen fremder intimer liebesgeräusche fand, wobei das pathologische in der schon quälenden zwanghaftigkeit und dem halluzinativen charakter liegt, den dieses stimulans für sie gewann.

kitzel zwischen käse und kuchen, eine völlerei

ist ein vortragstext für einen sprecher unter verwendung von zwanzig sektgläsern. er basiert auf je hundert haupt- und zeitwörtern aus dem deutschen wörterbuch zwischen "käse" und "kuchen" - also auch eine verbale völlerei, die naturgemäß mit einer verstimmung endet.
gerhard rühm

Ruehm 2

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                                                                                                                 Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 19.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Tom Johnson Die Schubladen (1978)
Eine Oper nach Riemann (Fragment) (1985/86) UA

Juliane Gabriel, Antje Husung, Christine Schäfer, Joachim Bernauer, Harald Schneider (Gesang)
Tom Johnson, Rüdiger Mühleisen (Klavier)

TOM JOHNSON: Die Schubladen

"Die Schubladen" (Drawers) wurde 1978 als eine der "Five Shaggy-Dog-Operas" geschrieben. Während der Komposition verfolgten mich Überlegungen zur Vorhersagbarkeit. So gehört diese Oper zu den frühesten derjenigen meiner Werke, in denen beinahe alles, was nach den ersten zwei, drei Minuten geschieht, vorhersagbar ist.
Denkt man an systematische Musik, so denkt man gewöhnlicher weise an das Zwölftonsystem. Für mich aber bedeutete das Denken in Reihen eher einen negativen als einen positiven Einfluss. Der große Unterschied zwischen dem, was die Spezialisten getan haben, und dem, was ich tue, liegt in der Verständlichkeit. Für den Serialisten bedeutet die Manipulation mit Reihen hauptsächlich eine sublimierte Logik, während sich der Hörer doch immer auf die offensichtliche Ebene des emotionellen Gehaltes konzentrieren soll. Mein Ziel war es nicht nur, das Interesse des Hörers auf die logische Abfolge zu lenken, er sollte voraussagen können, was als nächstes geschehen würde, und seine Aufmerksamkeit würde von der Schönheit dieser Muster selber gefangen genommen werden. Zudem wollte ich dies innerhalb eines musiktheatralischen Zusammenhanges unternehmen, wo das logische Fortschreiten sich sowohl in der Musik als auch im Text und der Bühnenhandlung spiegeln kann. Dadurch, dass visuelle und akustische Ebenen einander verstärken, können die Muster sehr subtil sein und erlauben es doch, ohne weiteres vom aufmerksamen Hörer verfolgt zu werden. Es schien mir, als bedürfe sowohl das Theater als auch die Oper eines besonderes Maßes an logischem Rigorismus. Auf beiden Gebieten opfern die eher traditionellen Werke nach wie vor die Möglichkeiten der Form dem, was für die Notwendigkeit der Handlung oder Charaktergestaltung gehalten wird. Selbst neuere Versuche, wie die von Robert Wilson oder Meredith Monk, scheinen mir durch ihre traum-artige Formung sogar noch subjektiver und unvorhersehbarer.
Die "Five Shaggy-Dog Operas" sind fünf kurze Stücke, die als Einheit gedacht sind. Die Uraufführung im Jahre 1978 in New York hatte einen Bildhauer als Bühnenbildner: Alan Finkel, mit dem ich während der Probenzeit recht eng zusammenarbeitete. So ergaben sich aus den fünf einfachen Objekten, die er für die fünf einfachen Opern baute, deren Namen. Zugleich bilden sie das extrem karge und konzentrierte Bühnenbild. In "Drawers" hat die Sopranistin ihren Fingerhut verloren. Sie sucht ihn in einem Kasten, der in der untersten Reihe acht Schubladen, in der Reihe darüber sieben, dann sechs, dann fünf und so fort aufweist und so die Struktur der Verse widerspiegelt. In "Window" verbringen der Tenor und der Bariton die ganze Zeit damit, dass sie die zwanzig Scheiben eines sehr schmutzigen Fensters putzen. "Door" hat im Mittelpunkt eine Tür, an die in Intervallen geklopft wird, und eine Mezzosopranistin, die nicht darauf reagiert. "Dryer" hat ein hölzernes Trockengerüst zum Inhalt, an das der Bariton - ein Fischer - gefangene Fische hängt, während er dabei von einem geheimnisvollen Tenor beobachtet wird. In "Box" laufen alle vier Sänger um einen großen hölzernen Verschlag und fragen sich, was wohl darin sein könnte. Wie alle wirklichen shaggy-dog Opern führt jede dieser Situationen zu einer dumpfen Pointe.


Eine Oper nach Riemann (Fragment)

Beim Großteil der "Oper nach Riemann" ist nichts vorhersagbar, und dies unterscheidet sie von meinen Kompositionen der letzten Jahre. Am Anfang stellte ich mir die Frage: Was würde geschehen, wenn die Sänger alles, was mit der Oper zu tun hat, nur aus dem Musiklexikon erfahren hätten, und der Komponist seine Oper nach dem Rat eines Musikwissenschaftlers komponieren würde?
Hugo Riemann (1849-1919) war ein bedeutender deutscher Musikwissenschaftler und Musiktheoretiker. Sein Musiklexikon, das 1882 zum ersten Male erschien, erlebte zu seinen Lebzeiten acht Auflagen. Spätere Ausgaben wurden von Alfred Einstein und anderen Forschern auf den jeweils neuesten Stand gebracht. Heute ist das Riemann-Lexikon das meistverbreitete musikalische Nachschlagewerk in deutscher Sprache und erhält dadurch beinahe den Stellenwert einer "Bibel" der musikalischen Information.
Die Komposition der Oper ist noch nicht abgeschlossen, ihre Gesamtdauer sollte eine Stunde betragen.

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                                                                                                                 Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Carles Santos


                                                                                                                 Sonntag, 2.3.1986
                                                                                                                 21.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

PENTHESILEA-AUBADE Nach Heinrich von Kleist
Organische Fragmente, bearbeitet von Carlo Quartucci

Das Zimmer
Marie Gualtieri von Kleist, Penthesilea, Königin der Amazonen Carla Tatò
Heinrich von Kleist, Achilles, griechischer König Gunter Berger
Lager der Griechen
Achilles, Antilochos, ein Doloper, ein Ätolier Joachim Bliese
Odysseus, ein Myrmidonier, ein Ätolier, ein Grieche Friedhelm Ptok
Diomedes, Hauptmann, ein Doloper Gerd Wameling
AchilIes, ein Grieche, Herold Gunter Berger
Lager der Amazonen
Penthesilea, Meroe, eine Amazone, eine Priesterin Regine Lemnitz
Penthesilea, Oberpriesterin, eine Amazone Sybille Gilles
Prothoe, Meroe, eine Amazone Rita Leska
Oberpriesterin Gudrun Genest
Penthesilea, Meroe Carla Tatò

Regie: Carlo Quartucci
Musik: Sukhi Kang
Elektroakustische Realisation: Folkmar Hein
Produktion WDR (Redaktion: Klaus Schöning, WDR 3 HörSpielStudio)
Realisation durch "La Zattera di Babele" im Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin Tonmeister: Christian Venghaus, Tontechnik : Thomas Seelig
Beate Gabriela Schmitt: Flöten

CARLO QUARTUCCI / CARLA TATÒ: Penthesilea-Aubade

Einleitung

Quartuccis Vorstellungen von einem abschließenden Hörspielwerk über das Thema Penthesilea/Kleist, gedacht für ein deutsches Zuhörerpublikum, bewegen sich auf zwei parallelen und ineinander verschlungenen Bahnen. Einerseits besteht der Wille, um nicht zu sagen der Zwang, die Klangfülle und durchschlagende Erneuerungskraft der Kleistschen Sprache zu ergründen, die unserer Meinung nach selbst im deutschsprachigen Raum bisher nur unvollkommen erforscht worden ist. Es geht darum, die klanglichen Möglichkeiten der Kleistschen Sprache, bedingt durch die kulturelle Unvoreingenommenheit des "mediterranen Ohres", direkter aufzunehmen und sie mit dem uns eigenen mediterranen Klang der speziell für Carlo Quartucci und Carla Tatò erarbeiteten Originalübersetzung von Enrico Filippini zu konfrontieren. Sprache und menschliche Stimme sind also im Mittelpunkt eines Arbeitsprozesses, der auch mit Hilfe der Möglichkeiten elektronischer Stimmverarbeitung ein musikalisches Zusammengehen von Stimmen und Sprachen zu schaffen sucht. Dies ist der Fall in der zweistündigen WDR-Produktion "Penthesilea-Aubade", die in den Jahren 1984/85 im elektronischen Studio der TU Berlin unter der technischen Mitarbeit von Folkmar Hein, während der Verwirklichung des "Rosenfests Fragment XXX" (Hebbel Theater, Dezember '84: Ein Festival des Floßes von Babel (Zattera di Babele)), in Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD entstand und an der neben Carla Tatò weitere acht Schauspieler der Schaubühne und des Schiller-Theaters Berlin teilgenommen haben. Penthesilea-Aubade wurde am 14.1.1986 im WDR 3-HörSpielStudio erst gesendet .

Die Reise im szenischen Raum

Die Szene ist ein Hörspielstudio. Sie ist aber auch ein Schlachtfeld, ein Raum des Gedächtnisses, ein Erinnerungsalbum, ein Empfindungsmosaik.
Regisseur und Schauspieler schicken sich an, Landschaft und kulturelle Atmosphäre der deutschen Frühromantik wiederzuerwecken. Die fieberhafte Lebenskraft dieser Penthesilea/Kleist, die Erregung der inneren Reise, die feine und ironische Polemik gegen die festgelegten Normen des Alltags und des gesellschaftlichen Lebens, die sich durch das Stück wie durch Werk und Leben des Autors der "Penthesilea" _ Heinrich von Kleist, Dichter - ziehen, sind im eigentlichen und unkonventionellen Sinn romantisch. Es ist eine Einladung, einzutreten in die Welt dieser außergewöhnlichen Tragödie, unsere Phantasie durch jene Seiten schweifen zu lassen, die für uns auch heute noch so faszinierend und modern sind.
Es ist eine Einladung, gemeinsam nach und nach die rastlosen, unzufriedenen, unangepassten Figuren zu entdecken - ferne und mythische Namen (Achilles, Penthesilea, Prothoe) oder vertrautere (Maria, Wilhelmine, Henriette, Ulrike, Pfuel), die das Leben und die Vorstellungswelt von Kleist bevölkerten. Die Einladung zu einer "Reise", die in ihrer Intensität selbst noch im Hörspielstudio alle gefangen genommen hat.
In der Tat: Eine Gruppe von Schauspielern schickt sich zu "proben" an. Das Magnetband nimmt ihre Stimmen auf, lässt uns ihre Erregung erahnen. Musik, Geräusche, Klagen werden uns wiedergegeben.
Man hört das Blättern der Regiebuchseiten. Es ist ein magisches Spiel chinesischer Schachteln, Schallwände, Flash Backs, innerer Vorstellungen, durch die bezeichnende Ereignisse aus dem Leben Kleists in die Szene eindringen, Fragmente seiner Briefe, tatsächlich existierende Figuren, die er sehr liebte, und Figuren seiner wichtigsten Tragödien, die ihm gleichermaßen lieb waren und die für ihn und uns "wirklich" sind.
Ein fieberhaftes Mosaik von Eindrücken und Stimmen gibt uns das Gefühl jener Einheit, die der romantische Dichter aus der Dichtung der "Penthesilea" und seinem eigenen wirklichen Leben geschaffen hat.
Wie Achilles dem klassischen Stereotyp bürgerlicher Moral gemäß an Penthesilea liebend denkt (wie an eine Kriegsbeute oder ein zu unterwerfendes Objekt), so verhält sich Kleist gegenüber seiner offiziellen Verlobten Wilhelmine, obwohl er sich in seinen Briefen an sie über die Unverträglichkeit der landläufigen Ehe-Moral beklagt. Im Gegensatz dazu ist die Liebe Penthesileas zu Achilles so sehr abseits aller Konventionen und so vollkommen irrational, dass sie nicht verstanden, ja sogar missbilligt wird - missbilligt sowohl von den Kriegern im Lager der Griechen als auch von den Amazonen, die aber dennoch in der Vorstellung Kleists Trägerinnen einer neuen Moralordnung sind, die die Leidenschaft der Liebe und die Sexualität als Freiheit (Das Rosenfest) den Einschränkungen der herrschenden Anständigkeit vorzieht. In der Entscheidung Penthesileas, die als Königin die Kriegsinteressen ihrer Amazonen verrät, um ihrem kühnen Traum von der Liebe zu dem feindlichen Helden zu folgen, spiegelt sich die ganze Kraft einer bewusst erlebten, irrationalen Leidenschaft und Rebellion, der auch Kleist erliegt, wenn er um des Erhalts seiner selbst als Mensch und Dichter willen jeden Kompromiss mit einer Gesellschaft und einer Familie ablehnte, die von ihm nur Einordnung und Anstellung forderte. Und so wie Prothoe, die treue Freundin der Königin, deren Entscheidung, von der sie weiß, dass sie todbringend sein kann, "wenngleich mit Tränen in den Augen", versteht, verstehen und unterstützen auch Kleist dessen Schwester Ulrike, seine Kusine Marie und sein brüderlicher Freund Pfuel. Wenigstens drückt Kleist diese Vorstellung in seinen Briefen an sie aus.
Während sich nach und nach das wechselvolle Duell zwischen AchilIes und Penthesilea entwickelt, und die Helden mehr und mehr die Unvereinbarkeit ihrer Liebe mit den Regeln sozialer Ordnung beider Fronten erkennen, wächst in Kleist das Wissen um die Unvereinbarkeit seiner Vorstellung vom Leben mit der gesellschaftlichen Ordnung seiner Zeit. So reift in ihm bewusst die Entscheidung zum Selbstmord, einem Selbstmord, der seinen Grund in jener unendlichen Traurigkeit hat, wie sie auch Penthesilea nach der - gesellschaftlich notwendigen - Tötung AchilIes' empfindet.

Gestern

Im Jahre 1980 führten Carlo Quartucci und seine Mitarbeiter im Folkstudio/Rom das "Concerto per naufragio" (Schiffbruch-Konzert) auf, das für das dritte Programm der RAI (Radiotelevisione Italiana) aufgenommen wurde. Renzo Tian schreibt dazu im "Messaggero": "Quartucci ist ein Wegbereiter der Hörspielregie ; es ist ihm gelungen zu zeigen, dass es nicht so sehr ein 'Hörfunk-Theater' als vielmehr eine Sprache des Klanges gibt - eine durch Klang erzeugte Aufführung." "Concerto per naufragio" zeigt das Bild eines geheimnisvollen Gewässers, aus dem Bruchstücke von Texten - Texten des deutschen Theaters von Kleists "Guiskard" bis Wedekinds "Erdgeist" - wie die Überreste eines wohlorganisierten Schiffbruchs auf- und untertauchen.
Im Anfang dieser Erfahrung liegen Jahre des Studiums der Radiophonie als szenischem Raum ("Pantagruel" von Rabelais, 1970; "Don Juan" von Molière, 1973; "Tamerlan der Große" von Marlowe, 1975); hiernach und nachdem das in Lessings "Hamburgischer Dramaturgie" enthaltene dramaturgische Projekt sowie die Wedekindsche Künstlergemeinschaft des "Kabaretts der elf Scharfrichter" die Aufmerksamkeit Quartuccis beansprucht hatten, erhebt sich die Gestalt Heinrich von Kleists über die anderen Figuren der deutschen Kultur. Kleist ist eine der bedeutendsten Verkörperungen des modernen Schriftstellers, des modernen Intellektuellen in seiner zwiespältigen und ungelösten Beziehung zu seinem eigenen Werk und der Gesellschaft, in der er wirkt. Und innerhalb Kleists Werk gewinnen für Quartucci die 24 trockenen und harten Szenen der "Penthesilea" die größte Bedeutung. "Penthesilea" ist der Versuch, die griechische Tragödie mit der Dramatik Shakespeares zusammenzuführen. So nimmt Kleist das expressionistische Drängen, das zeitgenössische Theater, die zeitgenössische Philosophie, ja sogar die Intuitionen Freuds vorweg.
Sie ist also nicht nur ein Text, sondern vielmehr eine Theatertheorie und ein Lebensprojekt, versunken in einem wahrhaftigen sprachlichen Inferno; Kleist reitet die Worte und überwindet endlich deren gedruckte Form, ihre Körperhaftigkeit. Die Sprache wird zum Klang, wird zum dramaturgischen Spiel mit dem Klang. Tatsächlich ist dieses Spiel der Klänge die Basis der langjährigen Arbeit Quartuccis, in der er sich der dramatischen Substanz der "Penthesilea" und des Lebens ihres Autors zu nähern sucht. Im Jahre 1980 wird das Hörspielprojekt "Penthesilea/Kleist - Progetto scenico in 4 parti" (szenisches Projekt in 4 Teilen) für die RAI realisiert. Ein Jahr später entsteht für die "Rassegna Internazionale dei Teatri Stabili" (Internationales Theatertreffen) auf der Bühne des Theaters Niccolini in Florenz "Penthesilea/Kleist - Sei frammenti" (sechs Fragmente); die Reise durch den Text Kleists beginnt, sich in ihre drei Ebenen - die klangliche, die theatralische und die filmische - aufzugliedern.
Hier nun begegnet dem theatralischen Projekt "Kleist" ein anderes: das dramaturgische Projekt der "Zattera di Babele" (Das Floß von Babel), einer Künstlergemeinschaft, die, unter der Leitung von Carlo Quartucci und Carla Tatò, aus der Notwendigkeit eines kulturellen Austausches zwischen Künstlern jenseits geografischer Grenzen und unterschiedlicher Kunstformen entstanden ist; ein Dialog, der somit eine neue Synthese verschiedener Ausdrucksformen zum Ziel hat, das heißt: eine neue Sprache. Kleist und seine Penthesilea sind als theatralischer Gedanke während aller Reisen Quartuccis mit dem "Floß" ständig präsent. Und so lassen sich Carlo Quartucci und Carla Tatò im Jahre 1984 von Kleist nach Preußen tragen - sie kommen nach Berlin. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD und dem Senat von Berlin entstehen "Canzone per Penthesilea" (Lieder für Penthesilea) im Hebbel-Theater, "Passione d'amore" (Leidenschaft der Liebe) im Künstlerhaus Bethanien, "Ouverture zum Rosenfest" in der Galerie am Körnerpark und "Rosenfest - Fragment XXX" im Hebbel-Theater.

Morgen

Im Frühjahr 1986 wird die Arbeit des "Floßes" an und mit Kleist ihren theatralischen Endpunkt erreichen - ihr Rosenfest; ein internationales Festival, eine Kleist gewidmete dramaturgische Landschaft, in deren Rahmen alle Künstler des "Floßes" eingeladen sind zu schreiben, zu zeichnen, zu komponieren, zu spielen … So wird dann am Ende dieser vielfältigen Variationen des Themas Kleist/Penthesilea nicht allein die Darstellung des gesamten, unaufführbaren Kleistschen Textes stehen, sondern darüber hinaus auch die Manifestation einer dramaturgischen Sprache.
Das Vorspiel, der Prolog dieses abschließenden Theaterfestivals wird also tatsächlich in dem Ergebnis der Arbeit mit der Klangwelt der Sprache Kleists bestehen. Was im Jahre 1980 mit Kleist/Penthesilea und der Suche nach Klanglichkeit begonnen hatte, fließt nach langer Reise durch die Verse, Briefe, Gedanken, Orte mit den Zeitgenossen Kleists (aber auch mit der Reise der Künstler des Floßes durch die Dramaturgie der Künste) in der Klangfülle des Magnetbande zusammen.

Heute

In dieser Performance mit Carla Tate und acht weiteren, deutschen Schauspielern (Gunter Berger, Joachim Bliese, Gudrun Genest, Sybilla Gilles, Regine Lemnitz, Rita Leska, Friedhelm Ptok, Gerd Wameling) begegnet dem Leben und der Arbeit des Dichters die Dramaturgie des
"Floßes" im harmonischen Kontrast der Sprachen (italienisch/deutsch) und der Kulturen (Mittelmeerraum/Preußen). Im Gegensatz der Sprachen verschärft sich das Unverständnis zwischen der rationalen, hierarchischen Welt der Griechen und der irrationalen, archaischen der mythischen Amazonen. Und dennoch entspringt dem Dialog zwischen diesem inneren Konflikt der Kulturen und der Kultur des "Floßes", das Grenzen und Schranken zu überwinden trachtet, ein neues, tieferes Verständnis.
Im szenischen Raum:
Das große, weiße Zimmer mit vielen Fenstern in der Ackerstraße.
Ein Schauspieler, eine Schauspielerin, ein Bass - Flötistin.
Zwei Schauspieler, zwei "Lesende", begegnen einander auf der geschriebenen Seite der "Penthesilea"; ein Mann und eine Frau, Heinrich von Kleist und Marie von Kleist, Achilles und Penthesilea. Kleist, der überlegt und das Finale der "Penthesilea" schreibt, und Marie, die soeben das Manuskript der "Penthesilea" erhalten hat und es mit Begierde liest.
Es ist ein Zwiegespräch zwischen Einsamkeiten, ein Ausbrechen aus geschlossenen Räumen dank des geschriebenen Wortes, eine Reise der Vorstellung, die aus dem Lesen der Seite mehr Kraft und Fülle schöpft als aus jeder Wirklichkeit; die Sprache, die Klanglichkeit der Sprache als Quelle der Vorstellung. So entspringt den Zeilen, die der Schauspieler/Kleist und die Schauspielerin/Marie im Dialog lesen, und der ständigen physischen und klanglichen Präsenz der Bassflöte die ganze Vorstellungswelt der Penthesilea. Es werden Schlaglichter auf das Privatleben Kleists und auf die Klangwelt geworfen, auf die er sich in seinen Briefen bezieht; das Lager der Griechen mit seinen Heerführern, das Lager der Amazonen mit Kriegerinnen und Priesterinnen, Skamander und die Mauern von Troja, Schlachten und Feiern, Liebe und Tod, in der selben organischen Abfolge von Fragmenten, in der Kleist das Drama in seiner Zeitschrift "Phöbus" veröffentlicht hatte. Auf dem leeren Blatt der Einsamkeit entstehen Zeichen, Worte, Noten, die zusammen ein dramaturgisches Werk schreiben, das die Einsamkeit des Lebens und der Kunst, die Unaussprechlichkeit des dichterischen Wortes durch die "Sprache des Klanges" zu überwinden sucht.
Die Idee ist die Realisierung einer klanglich-visuellen Dramaturgie des Wortes, das frenetisch im szenischen Raume tanzt und nach und nach - dieses Vakuum mit Sprache füllend - ein übervolles Bild aus Klangschichten schafft; physisch von drei Schauspielern entwickelt, sowie von Lautsprechern, mit denen diese Zwiesprache halten, als wären jene von ihnen selbst herbeigerufene Figuren.


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