INVENTIONEN'86                                                                                              Samstag, 1.3.1986
Radio-Art-Spaziergang: Walkman Berlin                                                             12:00 Uhr
daadgalerie Kurfürstenstraße 58

Willem de Ridder/Alvin Curran/Cora Walkman Berlin 1986
Ein Radio-Art-Spaziergang

Sie erhalten in der Galerie die erste Kassette für Ihren eigenen Walkman. Walkmen können gegen Hinterlegung einer Kaution kostenlos entliehen werden.
Die Galerie ist täglich geöffnet von 12.00 bis 19.00 Uhr


WILLEM DE RIDDER / ALVIN CURRAN / CORA: Walkman Berlin 1986

Es ist zu schwierig und verbietet sich im Grunde genommen von allein, das Projekt "Walkman Berlin 1986" jenen zu schildern, die diese Art Abenteuer bislang noch nicht erlebt haben. Es ist sinnvoller, einen der "Schauspieler" zu Wort kommen zu lassen:
"… Eines Tages entschloss ich mich, zur Kurfürstenstraße zu gehen. Ich langweilte mich. Im Café Einstein trank ich meinen ersten Morgen-Tequila. Die Kellnerin schaute mich an und sagte: 'Sie sehen gelangweilt aus.' Ich nickte. 'Gehen Sie die Treppe hinauf und fragen Sie nach "Walkman Berlin 1986"', flüsterte sie mir zu. 'Es wird Ihnen gefallen …. Es ist etwas Anderes.' Ich fragte sie, um welche Art Getränk es sich handele, sie aber zeigte nur zur Decke: 'Oben!'
Ich folgte ihrem Rat und fand mich in der daadgalerie wieder, wo mir eine Kassette ausgehändigt wurde. Als ich sagte, dass ich keinen Walkman besitze, gab man mir einen. Ich setzte die Kopfhörer auf und hörte. Sanfte Musik spielte in meinem Kopf, und eine fremde Stimme forderte mich auf, die Treppe hinunterzugehen … 'Sie haben keine Ahnung von dem, was Ihnen heute noch zustoßen wird … Sie müssen mir einfach vertrauen … Bitte verlassen Sie jetzt die Galerie … Gehen Sie die Treppe hinunter … Und verlassen Sie das Gebäude!"
Ich wusste nicht warum, aber ich folgte der Stimme. Ich war nie mit Kopfhörern durch die Stadt gegangen. 'Willkommen in Berlin', sagte die Stimme, 'wenn Sie meinen Anweisungen folgen, sind Sie der Schauspieler in einer neuen Art Theaterstück. Jeder Schauspieler hat einen Regisseur, und zusammen werden wir uns nun in eine Art Abenteuerfilm begeben, in dem Sie Schauspieler und Zuschauer zugleich sind …'
Während ich durch die Straßen Berlins ging, unternahm der 'Regisseur' alles, um es mir so angenehm wie möglich zu machen. Er sagte mir, wenn ich mich manipuliert fühlte, solle ich sofort aufhören und etwas anderes tun. Solange man lese, werde man vom Autor manipuliert, dasselbe geschehe im Kino, im Konzert und im Theater. Heute sei ich, solange ich der Stimme und der Musik folge, der Mittelpunkt des Geschehens.
Der Regisseur hatte Recht. Ich betrat wirklich ein anderes Berlin. Ich wurde an Orte geführt, zu denen ich mich sonst nie begeben hätte. Ich hörte Geschichten, die alles, was ich sah, veränderten. Ich musste mit Bussen, Zügen, Fahrstühlen fahren und Gebäude wie jenes scheinbar normale Restaurant betreten, das sich dann als etwas ganz anderes entpuppte … aber eigentlich sollte ich das alles gar nicht erzählen. Der Regisseur sagte mir, ich solle alle Geheimnisse für mich behalten. Die anderen sollten sie selber herausfinden.
Sie müssen nur die daadgalerie in der Kurfürstenstraße aufsuchen. Aber gehen Sie nicht zu spät dorthin. Am besten beginnen Sie Ihre Reise zwischen 12.00 und 14.00 Uhr. Vergessen Sie nicht das Kleingeld für die öffentlichen Verkehrsmittel, einen Imbiss und andere Überraschungen. Sobald Sie die Stimme und die Musik hören, wissen Sie, was Sie zu tun haben. Sie werden etwas erleben, was Sie bislang noch nicht erlebt haben. Es ist auch ein hübsches Geschenk für Gäste und Freunde. Verraten Sie Ihnen aber nichts. Geben Sie ihnen nur die Kassetten.

Cora, Curran, de Ridder
Foto: Curran, Cora, de Ridder


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                                                                                                                 Samstag. 1.3.1986
                                                                                                                 16.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

John Driscoll / Richard Lerman Sputtering Energy (at 500 times the true size) 1985/86
John Driscoll A Hall is All 1985
akustische Installation

JOHN DRISCOLL: A Hall is All (1985) - Akustische Installation

Diese Klanginstallation entstand für die Friedensbiennale im Hamburger Kunstverein. Die Arbeit besteht aus robotisch-rotierenden Lautsprecherinstrumenten, Mikrophonen und einer Elektronik, die die Lautsprecherbewegungen kontrolliert und die Klänge hervorbringt. Der Klang ist zum einen das Resultat der Resonanzen des Raumes, in dem die Arbeit installiert ist, und zum anderen eine ruhige melodische Folge.
Da sich die Arbeit allein die Raumresonanzen zunutze macht, ist die Dauer beliebig, wobei der Klangreichtum von den akustischen und architektonischen Gegebenheiten des Raumes abhängt. Durch die Bauweise und ihr Rotieren bedingt haben die Lautsprecher sowohl die Qualität kinetischer als auch tönender Objekte.
Wenn innerhalb der Installation der Lärmpegel zu groß ist, unterbricht die Arbeit solange ihre Klänge, bis sich wieder Ruhe eingestellt hat.


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 17.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße
Johannes Goebel Multi, Poly, Syn und Anti (1983)
für einen Sprecher
Takehisa Kosugi Fly (1981)
zweispuriges Tonband
(Produktion des Elektronischen Studios der TU Berlin )

Johannes Goebel Sprecher

JOHANNES GOEBEL:                Multi, Poly, Syn und Anti - Anmerkungen über Unterschiede

Musikvorgetragenes (Neu-Deutsch etwa: music lecture). Worüber es geht und wie es worüber geht, stehen dicht beieinander. Es geht mit Sprache über Sprache über Musik. Das steht im Raum. Man mag mitgegangen werden, mitgehen oder alleinstehn, aber zurückgehen nicht, eher weggehen. Aber es geht auch nur 45 Minuten. Da mag man sitzen, bleiben. Denn gerade um sitzen und setzen dreht es sich auch, um drehen und sehen und drehen und hören, nicht schwören, nicht drehen und wehen. Und Gertrude Stein kommt sicher nicht her. Sie ist schon gegangen. Doch der Unterschied von i und e nicht mit ihr, das macht es so schwer.


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 18.15 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance
Jean Dupuy

Bild 1

Bild 2

Bild 3



Bild 4

Bild 5

Bild 6

Bild 7


                                                                                                                 Samstag. 1. 3 .1986
                                                                                                                 19.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Alvin Lucier I am sitting in a Room (Originalversion) (1970)
Alvin Lucier I am sitting in a Room (Berliner Version) (1986)

ALVIN LUCIER:
I am sitting in a Room (1970)
für Stimme und Tonband

Benötigte Ausrüstung:
1 Mikrophon, 2 Bandmaschinen, 1 Verstärker, 1 Lautsprecher.
Wähle einen Raum mit den musikalischen Eigenschaften, die du hervorrufen möchtest.
Verbinde das Mikrophon mit dem Eingang der Bandmaschine 1. Verbinde Verstärker und Lautsprecher mit dem Ausgang der Bandmaschine 2.
Verwende diesen oder einen anderen Text von beliebiger Länge:
"Ich sitze in einem Raum, der verschieden vom dem ist, in dem Sie in diesem Augenblick sitzen.
Ich nehme meine Sprechstimme auf und werde sie in diesem Raum wieder und wieder abspielen, bis die Resonanzfrequenzen des Raumes sich selber verstärken, so dass jede Ähnlichkeit mit meiner Rede - vielleicht mit Ausnahme des Rhythmus - zerstört ist.
Was Sie hören werden, sind die durch Sprache artikulierten natürlichen Resonanzfrequenzen des Raumes.
Ich betrachte dies weniger als die Demonstration einer physikalischen Tatsache, als vielmehr den Ausgleich all der Unregelmäßigkeiten, die meiner Stimme anhaften könnten."
Nimm deine Stimme durch das Mikrophon der Bandmaschine 1 auf. Spule das Band bis zum Anfang zurück, lege es auf Bandmaschine 2, spiele es in dem Raum mittels Lautsprecher ab und nimm eine zweite Generation des Original-Statements mit dem Mikrophon von Bandmaschine 1 auf.
Spule die zweite Generation bis zum Anfang zurück und klebe sie hinter das Original-Statement auf Bandmaschine 2.
Spiele nur die zweite Generation in dem Raum mittels Lautsprecher ab und nimm die dritte Generation mit dem Mikrophon .der Bandmaschine 1 auf.
Führe diesen Prozess viele Generationen lang fort.
Alle Generationen in chronologischer Reihenfolge hintereinander geklebt ergeben eine Tonbandkomposition von einer Dauer, die durch die Dauer des Original-Statements und die Anzahl der Generation bestimmt ist.
Erstelle Versionen, bei denen ein aufgenommenes Statement durch viele Räume wiedergegeben wird.
Erstelle Versionen mit einem oder mehreren Sprechern verschiedener Sprache in verschiedenen Räumen.
Erstelle Versionen, bei denen für jede Generation das Mikrophon an eine andere Stelle des Raumes oder in einen anderen Raum bewegt wird.
Erstelle Versionen, die in realer Zeit aufgeführt werden können.


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Emmett Williams Musica (1969)
Faustzeichnungen (1983)

EMMETT WILLIAMS: Faustzeichnungen

Aus diesem einen Wort (es bildet den Titel, aber auch den einzigen Inhalt eines umfangreichen Textbuches) entwickelt Emmett Williams Hunderte von selbständigen poetischen Gebilden, indem er die sechzehn Buchstaben, aus denen es besteht, durch unterschiedlichste manipulative Eingriffe zu immer wieder anderen Konstellationen fügt. Williams' Vorgehen besteht jeweils aus zwei sich ergänzenden operativen Schritten (oder Sprüngen), die das vorliegende Buchstabenmaterial (insgesamt 416 Schriftzeichen) einerseits durch mehr oder minder strenge Elimination grob strukturieren und andererseits durch wechselnde kombinatorische Verbindungen eine Vielzahl von latent darin enthaltenen Texten freisetzen. Wie groß die aus diesem Verfahren sich ergebenden Möglichkeiten der eigendynamischen Textgenerierung im konkreten Fall sind, lässt sich wohl ungefähr abschätzen, wenn man davon ausgeht, dass aus dem Grundwort FAUSTZEICHNUNGEN Buchstabenkombinationen wie FAUST, FAST, AST, AUS, STICH, EI, ICH, EICHE, ZEICHNUNG, ZEIGEN, ZUNGE, AUCH, TEICH u.a.m. gewonnen und zur Herstellung potentieller Sätze verwendet werden können und dass für derartige Satzbildungen sechsundzwanzig Zeilen zur Verfügung stehen, abgesehen davon, dass bei diagonaler oder vertikaler Lektüre die Kombinationsmöglichkeiten noch einmal um ein Vielfaches zunehmen. So lässt Williams durchaus logische Wortfolgen wie diese entstehen:
EI/EI/EI/SIE/FANGEN/AN/ZU/FATZEN/HE/HE/HE/ICH/FEGE/SIE/AUS.
Oder diese:
SIE /SENGEN /SIE /STECHEN /SIE /SEHNEN /SIE /SENNEN /SIE /FUEGEN /SICH/ AN.
Die poetische Qualität solcher Textgebilde kommt dadurch zustande, dass dank der Reduktion lautlicher Kombinationsmöglichkeiten die Frequenz ähnlicher oder identischer Lautgruppen (und damit die Häufigkeit von Assonanzen, Reimen und anderen harmonikalen Sprachspielen) sich gegenüber alltagssprachlichen Texten deutlich erhöht. Doch nicht genug damit. Emmett Williams - bildender und dichtender Künstler in einem - erweitert das Bedeutungspotential seiner Texte zusätzlich dadurch, dass er das Leser-Auge aus der horizontalen Zeilenordnung ausbrechen, es nicht mehr bloß von links nach rechts die Schriftzeichen abtasten lässt, sondern ihm den Text als eine typographische Szenerie vorführt, deren adäquate Wahrnehmung nur dann erfolgen kann, wenn die lineare Lektüre durch intensives Schauen erweitert und die Schrift auch als Bild lesbar wird.
Williams' "Faustzeichnungen" machen erneut deutlich, dass formale Zwänge und Einschränkungen der Kunst keine Grenzen zu setzen vermögen; dass solche Zwänge und Einschränkungen vielmehr Voraussetzung dafür sind, dass künstlerische Arbeit sich zum Spiel befreien kann.
Felix Philipp Ingold

Musica

Zum 700. Geburtstag von Dante haben Studenten der Universität in Pisa die 14.233 Zeilen der Göttlichen Komödie auf die gleiche Anzahl 80-spaltiger IBM-Lochkarten übertragen und mit Hilfe eines 1MB 1070 Computers die 101.499 Wörter des Gedichts verschiedenen Forschungen unterworfen.
Einige der Ergebnisse:
Die sieben meistgebrauchten Substantive bei Dante:

occhi 213
mondo 143
terra 136
dio 112
maestro 111
ciel 105
mente 100

Das meistgebrauchte Adjektiv:
dolce 67
genauso häufig wie
amor
In "musica" werden diese neun Wörter in alphabetischer Reihenfolge geordnet, und ihr Verschwinden während der 213 Zeilen der Litanei schafft abrupte rhythmische Wechsel und andere Überraschungen,' auf Italienisch, natürlich, und auch auf Französisch, Deutsch, Polnisch, Englisch und Japanisch.
Nota bene: in der Göttlichen Komödie kommt das Wort "musica" nicht einmal vor. Aber …


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 20.45 Uhr/21.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

20.45 Uhr
Willem de Ridder Walkmen-Quartett für Publikum Nr. 6 (1986)
***
21.00 Uhr
Giorgio Battistelli Ostinato (1986)
für 20 Sprachen, Schlagzeug und Tonband

Carlo Rizzo (Schlagzeug)
20 Sprecher
Eva-Maria Schön (Bühnenbild)

GIORGIO BATTISTELLI: Ostinato - Großstadtnovelle

Bühnenbild von Eva-Maria Schön
"Ostinato" ist ein kurzes Musikstück, das ich während der letzten drei Wochen geschrieben habe; drei Wochen, die - zumindest für den Augenblick - meinen Aufenthalt in Berlin beschließen.
Ich habe eine Seite meines Berliner Tagebuchs ausgewählt, auf der sich in wenigen Zeilen Eindrücke, Bilder, Farben, Klänge dieser außergewöhnlichen Insel-Stadt konzentrieren.
Berlin, Metropole der mannigfaltigen Räume und Zeiten, Behälter weit entfernter und sich durchdringender Kulturen, junges Dorf, zu schnell und zu gewaltsam erwachsen.
In dieser Stadt, die seit langem Ziel von Klangräubern und zu Philosophen gewordener Kämpfer ist, ist die menschliche Stimme hartnäckig im Sich-Selbst-Erzählen gegenwärtig. Sie weicht der Taxonomie aus, indem sie sich der Erinnerung an die Erfahrung anvertraut.
"Ostinato" ist eine einfache Großstadtnovelle, in der die Mitwirkenden, vermischte Stimmen der Stadt, sich kurz und zurückhaltend selbst vorstellen. Eine von der Energie der polytimbrischen Trommel geschützte Zurückhaltung, die sich wie eine Schlange in die phonorhythmischen Mäander der verschiedenen Sprachen einschleicht.
Keine Ausarbeitung in wirklicher Zeit, der Klang wird mit entwaffnender und dilettantischer Einfachheit erzeugt, einer Einfachheit, die weder modern, noch post-modern ist, eine Einfachheit aber, die am Rande der Revolution und des Fortschritts lebt.

Giorgio Battistelli



                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 22.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance
Henning Christiansen                   "Als die Sprache platzte und die Musik abfuhr – und der Mond erscheint."
O R A K E L
Henning Christiansen , Werner Durand , Bjørn Nørgaard , und Geister

HENNING CHRISTIANSEN:
"Als die Sprache platzte und die Musik abfuhr – und der Mond erscheint."

O R A K E L
Invention = Erfindung
Johann Gottfried Herder gewidmet
(Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1770)
Als Däne muss ich sagen, dass es mir lieber wäre, wenn alle europäischen Sprachen kaputtgingen, sodass wir wieder von vorne anfangen könnten. Weil die Logik der Sprache ein Hindernis für unser Zusammensein ist.
Die Rettung ist nicht die Musik, weil die Logik unserer Musik ins letzte Jahrhundert gehört.
Aber ich glaube, der Mond will uns helfen.


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 23.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance

Diamanda Galas Eyes without Blood (1984)
für Sopran-Solo und Live-Signalverarbeitung

Dave Hunt Technik


                                                                                                                 Samstag, 1.3.1986
                                                                                                                 23.30 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Performance
Charlie Morrow                               Midnight Chan