Olga Neuwirth Olga Neuwirth
 
"Pallas/Construction"

1913 veröffentlichte Paul Scheerbart "Lesabéndio", einen "Asteroiden-Roman". Er beschrieb futuristische Konstruktionen aus Stahl und Glas auf dem Asteroiden Pallas, in dessen Zentrum eine "Mittelpunktsmusik" erzeugt wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließen sich Architekten wie Bruno Taut von Scheerbarts Beschreibungen anregen, 1996 griff Olga Neuwirth die bizarren Bilder mit einer Komposition für drei Schlagzeuger und Live-Elektronik auf. "Pallas/Construction"nimmt die literarische Anregung dabei zunächst beim Wort: Die meisten Klänge werden durch Metall und Glas erzeugt, die Form ist blockartig konstruiert und zeigt weniger organisch ablaufende Gesten als die meisten Stücke zuvor.

 
Doch jede etwaige Assoziation von Sphärenklängen läßt sich nicht lange aufrechterhalten: Hinter den anfangs diffusen Geräuschflächen werden deutliche Fetzen steirischer Volksmusik vernehmbar, ohne jeden Zweifel Klänge von diesem Planeten. "Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, daß sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluß weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet", so beschwerte sich Immanuel Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" über Glocken und Gesang der Betschwestern vom Nachbargrundstück. "Das Haus, in dem ich aufwuchs", erinnert sich Olga Neuwirth an ihre Kindheit in der Weststeiermark, "liegt etwas entfernt vom Marktplatz, an dem jeden Freitag im Juli/August bis heute ein kleines Volksmusikfest mit Umtrunk stattfindet. Das Faszinierende war nun, daß ein akustisches Phänomen, ein Klangweg, uns die Musik direkt in den Garten stellte. Ohne Entkommen lag trotz großer Entfernung von der Quelle das Haus direkt unter einer Volksmusikglocke."
 
In der kompositorischen Form von "Pallas/Construction" thematisieren die entstehenden Widersprüche zwischen quasifuturistischen und handfest-traditionellen Klängen Möglichkeiten des Erinnerns. Wiederholung und Variation, Verwandlung eines Ausgangsmaterials bis an die Grenzen der Kenntlichkeit, also beinahe thmatische Verarbeitung im traditionellen musiktheoretischen Wortsinn, werden in Olga Neuwirths Komposition auch mit Hilfe live-elektronischer Klangumformungen realisiert. Zur bereits erwähnten "Erinnerung", der Einspielung von wenigen Takten Volksmusik, tritt eine zweite: Die ersten zehn Takte des Stücks - wiederzuerkennen an den schrappenden Geräuschen des Guiro - werden mit dem Computer aufgenommen. Diese beiden "Erinnerungen" kreisen fortan leise, mit unterschiedlichen Rotationsrichtungen und wechselnden Drehgeschwindigkeiten, durch im Raum verteilte Lautsprecher über dem Publikum. Irgendwann wird die Erinnerung verzerrt, die steirische Volksmusik klingt zunehmend, als käme sie von einer eiernden Schallplatte. Dazu treten schattenhafte Überlagerungen eines musikalischen "Kurzzeitgedächtniesses": Einzelne Aktionen der Schlagzeuger, etwa die virtuosen Vibraphon-Läufe, werden zunehmend live-elektronisch verzerrt, bewegen sich ruckartig durch die im Raum verteilten Lautsprecher. Überlagerung, Verräumlichung, Dehnung, Hall, Delay, Verzerrung und sonstige Verarbeitungsformen legen sich über das "Original", vielfältige Klänge machen einander die Realität streitig.
 
Bernhard Günther