Inventionen '98:
50 Jahre Musique concrète

Vorbemerkungen

Es war eine zufällige Entdeckung, die 1948 zur Musique concrète führte. Der Toningenieur Pierre Schaeffer war bei seiner Arbeit im Pariser Studio d'Essai auf der Suche nach einer "Sprache der Geräusche" – ihm schwebte ein wortloses Hörspiel, eine "Geräuschsymphonie" vor – , als er auf eine neue Technik stieß: Durch das Schließen einer Schallplattenrille in sich selbst – heute als Loop ein gängiges Prinzip – wird ein aufgenommenes Geräuschfragment aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Die endlose Wiederholung eines Klangsplitters läßt seinen Ursprung vergessen – er wird zum plastischen Objekt, zum Klangobjekt. Mit seinem Concert de bruits hatte Schaeffer für die Musik erschlossen, was in Malerei und Film schon lange etabliert war: die Collage aus vorgefundenem Material. Das Organ dieser direkt auf Tonträger fixierten Musik wurde der Lautsprecher.

Konkret taufte Schaeffer seine Entdeckung zwei Jahre später, um die Betonung auf den neuen kompositorischen Ansatz zu legen. Anstatt von einer abstrakten Konzeption auszugehen, die auf Notenpapier fixiert und dann erst in der Aufführung konkretisiert wird, schlägt die konkrete Musik den umgekehrten Weg ein: Ausgangspunkt ist das Rohmaterial – vom Mikrophon eingefangene Klänge, die nach dem Gehör ausgesucht, verarbeitet und anschließend nach abstrakten Kriterien neu zusammenmontiert werden.

Die Musique concrète verkehrt den funktionalen Einsatz der Reproduktionsmedien in den Gebrauch als Instrumentarium künstlerischer Produktion; sie stellt das traditionelle kompositorische Verfahren auf den Kopf; und sie fordert und fördert nicht zuletzt auch eine aktive, gestaltende Wahrnehmungshaltung.

 

Warum sendet man eigentlich nicht einfach drei Minuten "reines Waggonrattern" und macht die Leute darauf aufmerksam, daß es völlig ausreicht Zuhören zu können, daß die ganze Kunst im Zuhören liegt.

Pierre Schaeffer

 

Das musikalische Konzept der Musique concrète ist Charakteristikum der Musikkultur im Zeitalter elektronischer Medien. Von Paris breiteten sich diese Ideen mit einem Ensemble technischer Verfahren aus – nicht nur in die internationale Zentren zeitgenössischer Kunstmusik, sondern auch in diverse Bereiche populärer und funktionaler Musik. Und so möchte es das Festival auch widerspiegeln.

Mit den Concerts concrets liegt der Schwerpunkt auf Tonbandkompositionen konkreter Musik, die über ein Akusmonium zum Klingen gebracht werden. Ein Orchester räumlich verteilter Lautsprecher materialisiert die Musik, von den Komponisten selbst gesteuert, im konkreten Raum. Die meisten der Kompositionen sind Auftragswerke des Festivals, von internationalen Protagonisten der Musique concrète in Hinblick auf ihre 50-jährige Geschichte komponiert. Diese neuen Werke stehen akusmatischen Stücken der gestandenen Vertreter aus der Pariser "Zentrale" der Musique concrète, der GRM, gegenüber.

Zwar steht die konzertant inszenierte konkrete Musik im Zentrum dieses Festivals; doch das Bild wäre nicht vollständig, würde man nicht die Verbindungen der Musique concrète zum experimentellen Film beleuchten und ihre Auswirkungen auf die Zwischen- und Mischbereiche vorstellen. Lautsprecherinstallation, Samplingtechniken der Popmusik sowie Materialverfremdung der Performance-Kunst gehören daher zu unserem Programm. Um Gehörtes auch zur Sprache zu bringen, sind Wissenschaftler, Künstler und Publikum in einem zweitägigen Symposium zu gedanklichem Austausch eingeladen.

Daß sich Berlin diesem Jubiläum annimmt, hat auch historische Gründe. Hier verweben sich verschiedene Fäden zu einer ganz besonderen Vorgeschichte einer "Kunst der aufgenommenen Klänge": Seit 1928 existierte in Berlin die sogenannte Rundfunkversuchsstelle, eine Einrichtung, die wie das Studio d'Essai die Entwicklung einer "funkischen" Sprechweise und einer radiophonen Musik anstrebte. Dort experimentierten die Komponisten Ernst Toch und Paul Hindemith bereits 1930 mit dem künstlerisch noch unerforschten Medium "Grammophon". Fast zeitgleich produzierte der Filmemacher Walter Ruttmann für die Berliner Funkstunde in den Filmateliers der Triergon in Berlin-Mariendorf eine 11-minütige anekdotische Montage aus Klängen der Großstadt. Schon 18 Jahre vor Schaeffers Entdeckung übertrug Ruttmann in Weekend filmische Montagetechniken auf das akustische Medium. Sein "photographisches Hörspiel" aus Klangbildern Berlins gilt als Vorläufer konkreter Musik.

Über seine Vorgeschichte hinaus ist Berlin auch in der Gegenwart ein Zentrum elektroakustischer Musik – ein Umstand, der sich in der Verbindung der drei Veranstalter des Festivals widerspiegelt und die Form des Festivals prägt: Die TU Berlin engagiert sich einerseits mit dem Elektronischen Studio seit 45 Jahren für elektroakustische Musik; andererseits ist ein wesentlicher Schwerpunkt des Musikwissenschaftlichen Instituts die Erforschung der Musik des 20. Jahrhunderts mit ihren grenzüberschreitenden Gattungen wie z.B. der Klangkunst. Die Radiokunst-Redaktion des SFB spannt den Bogen von den radiophonen Ursprüngen dieser Musik zu den gegenwärtigen Radiokünstlern; und schließlich bildet das Berliner Künstlerprogramm des DAAD mit seiner langen Tradition der Förderung intermedialer Verbindungen eine internationale Brücke zwischen den Künsten.