The Relative Violin


Danksagung

Seit über 10 Jahren betreibt Jon Rose das Arbeitsprojekt The Relative Violin, innerhalb dessen er als Musiker, Künstler, Hörspiel- und Filmemacher die Geige in ihren geschichtlichen und kulturellen Zusammenhängen untersucht und zu immer neuen Mutationen und Transformationen führt. Von diesem "work in progress" hat die Idee für das Festivalprogramm ihren Ausgang genommen, und Jon Rose wurde zum künstlerischen Spiritus Rector des Unternehmens. So habe ich, als mehr für den koordinativen Teil des Programms Zuständiger, ihm an erster Stelle sehr herzlich zu danken.

Das Festivalprojekt, über das bereits Mitte 1986 erste Gespräche stattgefunden hatten, war ursprünglich als Veranstaltung anlässlich des 5-jährigen Bestehens der Freunde Guter Musik Berlin e. V. im Herbst 1988 geplant, fiel aber der Veranstaltungsdichte in der Kulturstadt Berlin E 88 und fehlender finanzieller Unterstützung zum Opfer. Wir freuen uns besonders, dass das Festival nun als Teil der INVENTIONEN' 89 stattfinden kann. Dies ermöglicht zu haben, ist dem Senator für Kulturelle Angelegenheiten, der Akademie der Künste und dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD zu danken, insbesondere dem Engagement der Herren Bernd Mehlitz, Christian Kneisel und René Block.

Liviu von Braha und Sankha Chatterjee stellten Kontakte nach Rumänien und Indien her, die ohne sie schwerlich zustande gekommen wären. Barbara Bloom war bei der Bildbeschaffung und mit vielen fruchtbaren Anregungen in liebenswürdigster Weise behilflich. Ingrid Buschmann hat das Vorhaben mit großer Ausdauer und Umsicht vorangebracht Stellvertretend für die vielen, die im Hintergrund am Zustandekommen des Projekts hilfreichen Anteil hatten, möchten wir Konstanze Binder und Angelika Uebel nennen. Wir danken Klaus Ebbeke und seinem Team an den Bildschirmen für ihre große Hilfe bei den Übersetzungs- und Schreibarbeiten.

Matthias Osterwold
Freunde Guter Musik Berlin e. V.

Zur Einführung: Mythos Geige

Beginnen wir mit den Legenden: Nero habe Geige gespielt, während Rom in Flammen aufging (Ganz unglaublich, weil die Geige noch nicht erfunden war) - Der Teufel selbst habe Paganini den Bogen geführt (Glauben?) - Sherlock Holmes habe beim Geigespielen schwerste Verbrechen aufgeklärt (Die Leute schreiben immer noch Briefe an diesen fiktiven Detektiv) - Einstein sei ein talentierter Geiger gewesen (Personen, die ihn gehört haben, bejahen dies keineswegs) - Man könne ohne weiteres eine "Stradivari" von anderen Fabrikaten unterscheiden (Ein berühmter Test, dem sich Isaac Stern und drei weitere berühmte Geiger unterzogen, bewies: keiner von ihnen konnte seine eigene Geige wiedererkennen, geschweige denn die anderen 'Marken') - Haifetz habe eine geradezu perfekte Technik gehabt (Der berühmte Fehler, auf Schallplatte aufgenommen für die Nachwelt, beweist das Gegenteil) usf.

Wie kein anderes Instrument hat die Geige in der westlichen Musik eine Aura gewonnen, die weit über ihre eigentliche klangliche Funktion hinausreicht. Der im 17. Jahrhundert beginnende Siegeszug der Instrumente der Streicherfamilie hat die Geige als führendes und melodietragendes Instrument, sei es im Orchester, in kleineren Besetzungen oder in der solistischen Rolle zu einem Sinnbild des "Klassischen" in der Musik werden lassen. Ihre Flexibilität und Körpernähe prädestinierte die Violine als Träger eines neuen subjektiven und affekthaltigen Ausdrucks. So erreicht die Geige im 19. Jahrhundert den Zenit ihrer Stellung und charismatischen Ausstrahlung. Der "Teufelsgeiger" (Paganini war wohl seine dämonischste Inkarnation) verkörpert weit mehr noch als der "Tastentitan" den Typus des virtuosen Solisten schlechthin. Um die Geige rankt sich, anders als um die "Maschine" Klavier, wenn wir von dessen "Erwärmung" durch Joseph Beuys einmal absehen, der Mythos des Organischen und Anthropomorphen. In diesem Assoziationsfeld sind ihre Symbolisierungen vielfältig und ambivalent: Identifikation mit dem weiblichen Körper, mit den himmlischen Gefilden, aber auch mit "dunklen" religiösen Zügen bis hin zur Allegorie des Knochenmanns, der mit seiner Fiedel im hohlen, fahlen Quinten zu einem letzten danse macabre aufspielt. Die Violine ist eine Ikone des Wohlstands, der Qualität, der Eleganz, des feinen Geschmacks und vergangener "goldener" Zeiten. Bei Auktionen, in Ausstellungen und 'historischen Sammlungen' erweist sich die Violine als gesuchtes Kunst- und Sammelobjekt Das als beseelt gedachte Instrument ist zum Fetisch im doppelten Sinne geworden: als kostbares materielles Objekt und als Träger einer (vermeintlich) unverwechselbaren Klangpersönlichkeit

Das Projekt THE RELATIVE VIOLIN will dazu beitragen, die weitgehend erstarrte auratische Tradition der Violine wieder in Fluss zu bringen, eine Tradition, die sich, getragen durch das gehobene Konzertleben und durch affirmative Strategien der Tonträger Industrie, mehr oder minder unverändert aus dem 19. Jahrhundert bis heute perpetuiert hat. Mit der solistischen Geige als Angelpunkt sucht das Festival aus einer gegenwärtigen und interkulturellen Perspektive die Auseinandersetzung mit dem so populären wie doch auch bizarren Klanggerät Dies geschieht durch eine Vielfalt von Darstellungsformen: in Konzerten und Performances, in einem audio-visuellen Environment mit Installation, das dem Zugriff der Besucher offen steht, mit Hörspielen, Filmen, Texten und Bildern. So wird ein Rahmen angeboten, in dem durch hochgradige Verdichtung, durch Kontrast und Kollision sich neue Verbindungslinien des Verständnisses bilden könnten. Die Struktur des Mythos Geige wird zerlegt und als variable Bedeutungsmatrix neu zusammengesetzt:

- Der Klang: Erweiterung des Klangspektrums durch neue oder unübliche Stimmungssysteme, z.B. Scordatura und reine Obertonstimmungen, besondere Spieltechniken, Verfahren des kompositorischen Satzes und elektroakustische Manipulationen wie Verstärkung und elektronische Klangbearbeitung.

- Die Form des Instrumentes: Mutationen und Transformationen des Ausgangsmodells zum Instrument - Objekt sowie speziell gefertigte Instrumente und seltene Violinenvarianten, z.B. Instrumente mit Resonanzsaiten.

- Der Geiger. Funktion und Aufführungssituation: Reflektion, Inszenierung und Dekonstruktion des Aufführungsaktes als gestisch theatralische Aktion: Performance. Interaktionen mit elektronischer Technologie und Film.

- Interkulturelle Kontaktprodukte: die Art und Weise des Gebrauchs der Violine außerhalb der europäischen Konzertmusik bzw. die Formen ihrer Assimilation in nicht-westlichen Kulturen, etwa in der südeuropäischen Volksmusik, im Jazz oder in der indischen Musik, legt Verslehensdifferenzen zwischen den verschiedenen kulturellen Räumen und Schichten frei.

- Das Bild: Die Aura der Geige und des Geigers ist zu einem wesentlichen Teil visuell vermittelt. Alte und neue Filme, teilweise im Dialog mit live-spielenden Musikern, Abbildungen und Ausrisse im Katalog thematisieren partikelhaft die Bildwelt und ikonographische Tradition der Violine.

- Geschichte(n): Mit dem Medium Hörspiel und Film werden in freien und spielerischen Diskursformen Geschichten und Legenden, Anekdoten und Phantasien um die Violine und ihre Psychologie aktualisiert.

Jon Rose, Matthias Osterwold


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