Musik für ca. 16 Saiten

5. Konzert
Silesian String Quartet


ZOLTÁN JENEY: Sostenuto - für Streichquartett (1988)

Die 1979 vollendete Komposition Sostenuto für Orchester war als Gegenstück zu der 1975 entstandenen Komposition Quemadmodum für Streichorchester gedacht. Die Struktur beider Stücke wurde dadurch gewonnen, dass ein traditionelles musikalisches Material mittels eines von diesem Material unabhängigem, nicht-musikalischen Systems gefiltert wurde. Deshalb kann sich bei beiden Kompositionen ein "déjà vu"- Moment einstellen, ohne dass das Gefühl eine bestimmte Richtung angeben könnte. Die Hauptklangcharakteristik von Sostenuto besteht darin, dass ein quasi-vierstimmiges Material - das den strukturellen Kern bildet - beständig mit Oktaven verdoppelt und vervielfacht wird. Dadurch ergeben sich gewissermaßen "Obertöne" und "Subharmonische", die zu einem in beständiger Änderung befindlichen Klangraum fuhren. Da die Töne der einzelnen Stimmen jedoch nicht der Logik eines vierstimmigen Satzes, sondern einem davon verschiedenen Prinzip gehorchen, bleibt die vierstimmige Struktur eher latent.

Bei der ersten Aufführung von Sostenuto im Herbst 1986 machte ich die Erfahrung, dass die sehr transparente Instrumentation der vierstimmigen Struktur einen extrem langwierigen und aufwendigen Probenprozess verlangt. Daraus ergab sich der Gedanke, dieses Stück für ein Kammermusikensemble zu transkribieren, um so die Kontinuität der Komposition, die trotz des diskontinuierlichen Charakters des Ausgangsmaterials doch spürbar werden muss, für die Interpreten leichter realisierbar zu machen. Aus diesem Grund scheint mir das Streichquartett als von vornherein vierstimmige Struktur die geeignetste Lösung.

Zoltán Jeney


PAWEL SZYMANSKI: Zwei Stücke für Streichquartett (1982)

Die rund 13-minütige Komposition Dwa utwory na kwartet smyczkowy (Zwei Stücke für Streichquartett) wurde 1982 zum 100. Geburtstag von Karol Szymanowski geschrieben. Die Uraufführung fand am 1. Oktober 1983 auf den siebten Tagen der Musik Karol Szymanowskis in Zakopane statt.

Das erste der beiden Stücke beginnt mit einer langsamen Einleitung, deren eher statisches, um den Ton Es zentriertes Material den Ausgangspunkt auch des zweiten Stuckes bildet. Darauf folgen - als die eigentliche Substanz des ersten Teiles - Texturen, für deren Binnenstrukturierung man am ehesten Ligetis Wort von der "Mikropolyphonie" in Anspruch nehmen würde. Die Formdynamik des Satzes ist durch eine sich beständig verhärtende Artikulation bestimmt. Der erste Satz ist nicht unwesentlich auch durch seine große Lautstärke (durchweg fff) charakterisiert.

Ohne eigentliche Pause gehen die beiden Stücke attacca ineinander über. Der Eindruck einer Unterbrechung ergibt sich aus der Generalpause, mit der das zweite Stück anhebt. Das - im äußersten Gegensatz zum ersten - äußerst leise gehaltene zweite Stück nimmt wiederum vom Ton Es seinen Ausgang. Mittels gegeneinander verschobener Einsätze und durch den Gebrauch von Vierteltönen, die hier einen akzidentiell- färbenden Charakter besitzen, wird der liegende Ton des Anfangs mehr und mehr mit einer gleichsam inneren Bewegung versehen, die ihn schließlich in eine wiederum mikropolyphonisch strukturierte, irisierende Textur überführt. So treffen sich am Ende die formbildenden Prinzipien der beiden auf den ersten Blick so unterschiedlich scheinenden Sätze. Mit dem Flageolett-Nachbild des Anfangstones endet die Komposition.

Pawel Szymanski


WITOLD SZALONEK: Inside ? - Outside ? (1986)

Die von Harry Sparnaay in Auftrag gegebene und ihm gewidmete Komposition Inside ? - Outside ? für Bassklarinette und Streichquartett entstand 1986. Uraufgeführt wurde sie während des "Time of Music" Festivals in Viitasaari (Finnland) 1988 und gleich darauf im Warschauer Herbst wiederholt. Heute findet in derselben Besetzung die deutsche Erstaufführung statt.

Das ca. 27 Minuten dauernde Werk hat eine ABA 1 - Bogenform, die von mir nicht vorausgesetzt worden war, sondern aus dem die musikalische Idee tragenden Klangmaterial heraus resultierte. Diese Idee wurde einerseits selbstverständlich von den Eigenschaften der Bassklarinette, vor allem aber vom unglaublichen Können und der Persönlichkeit Harrys stimuliert, andererseits auch inspiriert vom objektiven "musikalischen Material", das mich seit Jahren fasziniert: dem gregorianischen Choral und außereuropäischer Musik, in diesem Fall diejenige Schwarzafrikas.

Die Auslegung des erst im Frühjahr 1988 festgelegten Titels des Werkes überlasse ich dem Zuhörer. Bezieht sich dieser Titel vielleicht nur auf die Stellung, die das Blasinstrument gegenüber dem Streicherensemble innehat? Oder beinhaltet er einen philosophischen Begriff, den ich in der strengsten - obwohl im Bezug auf die Zeit aleatorischen - selektiven Zwölfton-Achsentechnik (die so konzipiert ist, dass sie die tonikalisierenden Elemente nicht als Fremdkörper, sondern als integrales Klangmaterial wahrnehmen und empfinden lässt) in klanglichen Konstellationen zu strukturieren versuchte?

Vielleicht aber birgt er in sich die Frage der Fragen eines jeden schöpferischen Komponisten, sein "to be or not to be", die er sich bei der täglichen Arbeit immer wieder stellen muss: tauge ich noch was, habe ich noch was zu sagen, bin ich im Klang und vermittle durch das Hörbare Inhalte, die für meine Gesellschaft - obwohl sie es jetzt, gleich, nicht unbedingt merken muss - lebenswichtig sind, oder gehört meine Arbeit zu jenen, am laufenden Band nach routinemäßigen Formeln produzierten Werken, die die Uraufführungssucht der Musikmedien stillen und schnellstens vergessen werden sollen?

Oder deutet dieser Titel vielleicht einen seelischen Zustand eines seit 18 Jahren in der Welt-Kulturstadt Berlin lebenden Komponisten an, der das Gefühl nicht loswerden kann, dass er in diese Stadt aufgrund seines Schaffens zwar berufen, aber nachher von ihr nicht angenommen wurde? Ist er hier also ein "In-" oder "Outsider"?

Vielleicht aber …

Witold Szalonek


ALVIN CURRAN: VSTO Alvin Curran for Giacinto (1988)

VSTO ist das Akronym für "Via San Teodoro Otto" - die Adresse und der lebenslange Aufenthaltsort von Conte Giacinto Scelsi di Valva. Scelsi war einer der überraschendsten und originellsten Komponisten unseres Jahrhunderts, ein Mystiker und lieber Freund: diese kleine Komposition ist zu seinem Gedächtnis komponiert.

Via San Teodoro Otto liegt in einer der schönsten Gegenden Roms mit Blick über die Rückseite des Palatin und das Forum Romanum, und es war für Scelsi der wirkliche geographische Begegnungspunkt von Ost und West (wie sein eigenes Leben und Werk). Ein stiller, zeitloser Ort, an dem es keinen Unterschied zwischen von Musik und Leben gab. Via San Teodoro Otto war synonym mit Scelsi: wo er lebte und wer er war.

1986-87 habe ich während eines BKP-Aufenthaltes in Berlin ein Streichquartett For Four or More geschrieben, in dem live-elektronische Transformationen der vier Streichinstrumente vorkommen. In einer ersten Version wurde dieses Werk auf den Darmstädter Ferienkursen 1986 vom Chronos-Quartett aufgeführt, in einer endgültigen Fassung dann für den Hessischen Rundfunk. Es ist wie eine befremdliche Reise durch sehr unterschiedliche und schwierige Landschaften komponiert, die schließlich aber auf vertrautem Gelände zur Ruhe kommt: eine vergleichsweise stabile Gruppe von 14 Akkorden (tonale Dreiklänge), die wie ein Choral erscheinen.

Dieselben 14 Akkorde bilden jetzt den Anfang von VSTO (sie mussten es sein) und setzen so mein erstes Quartett For Four or More fort. Wieder finden sich live-elektronische Klangumwandlungen, die aber in einer zurückhaltenderen - und vielleicht verfeinerteren - Weise eingesetzt werden. Diese Klangumwandlungen leiten sich von Computer-Programmen her, die Nicola Bernardini entwickelt hat und die die ungewöhnliche Weise bestimmen, in der die vier Instrumente die acht Synthesizer, an die sie angeschlossen sind, steuern. Der rein akustischen Erscheinung der Instrumente wird oft ein etwas rauer elektronisch verstärkter Klang gegenübergestellt. Jedes Instrument ist mit einem Kontaktmikrophon über einen Pitch-to-MIDI-Converter an den Computer angeschlossen. Dieser dann steuert den Synthesizer. Ab und zu werden die Töne der Streichinstrumente selber durch zwei Harmonizer mikrotonal modifiziert.

Die Struktur der Komposition ist sehr einfach, beinahe klassisch: drei unterschiedene Satzcharaktere, die miteinander verbunden sind. Jeder Satz teilt sich in acht Variationen oder Untersektionen, oft einer Rondo-Form ähnlich. Die Zahl 8 war Scelsis Lieblingszahl. Sie bildet - obwohl ich keinen systematischen Gebrauch von ihr mache - das konzeptuelle Grundgerüst der Komposition.

Alvin Curran

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