Bandbreite

6. Konzert


RALF HOYER: "Nocturne" - für Klavier und Tonband

Was ein Nocturne in den guten alten Zeiten der Hausmusik und der Salonlöwen am Pianoforte bedeutet hat, weiß heute vielleicht schon nicht mehr jeder Musikfreund. Deshalb schlagen wir in einem Lexikon nach und erfahren, dass die französische Bezeichnung im 19. Jahrhundert mehr und mehr auf kürzere, träumerische oder elegische Klavierstücke mit expressiv gestalteter Melodie, häufig in dreiteiliger Liedform überging. Ralf Hoyer weiß das natürlich, und in manchem respektiert er die Definition. Ein Klavier wird gebraucht, die dreiteilige Form ist einigermaßen gewahrt, lang dauert das Stück auch nicht und selbst ein melodisches Gebilde findet sich vor. Aber das Träumerische, das Elegische, das Expressive - die sinngebenden, romantisch-vertrauten Eigenarten? Sie bilden nur noch den stummen Kontext zu Verlautbarungen von Nachtgedanken höchst anderer, sehr gegenwärtiger und konkret benennbarer Art: deshalb auch der Titel in Anführungszeichen - doppelbödig gemeint. Und hintersinnig bleibt alles, was da geschieht. Zu Beginn ein Klavier-Satz, dissonant verhaktes Spiel in der Mittellage, strenge, aus einer klang-geometrischen Matrix gewonnene Strukturen. Der Vortrag erweckt den Eindruck von etwas Gleichförmigem, Mechanischem, von der sturen, verzweifelten, vergeblichen Anstrengung, voranzukommen und aufzubrechen. Der Suchende bricht ab, redet und hört, aus Lautsprechern, sein Echo. Nun hebt ein alptraumhafter Dialog an, geradezu zwanghaft den vorgegebenen Klangformeln folgend und nicht gehorchend den schüchternen Zurufen. Dem Spieler verzerrt sich im Ohr der eigene Klang, die Vokabeln wuchern und laden sich mit gegenteiligem, aggressiven Sinn auf. Lässt sich ihm vielleicht "singend" entkommen? Das Klavier versucht, die hämischen Geister durch einen choralhaft gesetzten Cantus zu bannen. Doch das gelingt nur auf Zeit, denn bald meldet sich das höllische Geflüster umso penetranter. Wie im Zorn beginnt der Pianist nun seine monotonen, vertrackten Exerzitien von neuem, während in seinem Hirn eine fatale Erkenntnis aufdämmert. Unbewusst hat ihm vergessene Schullektüre - Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied - mitgespielt, um ihm in Bruchstücken bedeuten zu wollen, welch realistisch-aktuelle Lesearten es hergeben kann. Indem dies dämmert, hell erkannt und ausgesprochen wird, ist das "Nacht-Stück" zu Ende.

Frank Schneider


RALF HOYER: "Sonata" für Klavier, Tonband und Live-Elektronik

Die "Sonata" komponierte Ralf Hoyer in mehreren Etappen zwischen 1983 und 1985. Die italienische Bezeichnung ist mit Bedacht gewählt, denn sie meint einen relativ frühen Typus von "Klingstücken", dessen Form noch nicht festgelegt und dessen Gehalt nicht ein ambitionierter Gefühlsausdruck ist. Auch dieses Stück tendiert - anders als die klassische oder romantische Sonate - zur Naivität des Klangspiels und zur Freude am Vorspielen - wozu ja heute unbedingt der experimentierende Umgang mit elektronischer Klangverformung und -verwandlung gehören kann. Zwar baut sich Hoyers "Sonata" ein dreiteiliges Gehäuse, dessen Kammern sich mit Begriffen wie "Exposition", "Durchführung" und "Reprise" belegen lassen, aber dies wäre gewaltsam und den sachlichen musikalischen Vorgängen kaum recht angemessen. Vor allem fehlt ihnen ganz bewusst das qualitativ "entwickelnde" Moment und damit der dialektische Impuls als autoritäre subjektive Setzung. Hoyer dagegen - und auch das verbindet ihn mit den vorklassischen Musikern - bindet das Komponieren an strenge, objektive Regulative, als brächte die vielseitige Erfüllung solcher Gesetzlichkeiten das Klingende gleichsam fertig hervor. Dazu gehören einmal die Arbeit mit zwölftonigem Material, zum anderen die Strukturierung mit Hilfe ausgeklügelter Kanontechniken und zum dritten die Variation relativ einfacher, körperwirksamer rhythmischer Muster. Vor allem aber ist hier wichtig, dass von den investierten Kunstfertigkeiten und organisatorischen Manipulationen möglichst wenig spürbar wird. Denn auch mit diesem Stück will Hoyer neue Musik von esoterischem Ambiente befreien und Hörern, auch ohne Vorkenntnisse, aber auch ohne selbst auf profunde Neuigkeiten zu verzichten, den spontanen, spannenden Kontakt ermöglichen. Die "Sonate" beginnt mit einem markanten "Anruf", aus dem sich die Grundmotivik des Stückes herausschält. Auf drei solche Anrufe, die später elektronisch überformt werden, antworten drei, von Mal zu Mal ausführlichere und intensivere Abschnitte, deren kontrapunktische Faktur in einer gewissen Festigkeit und konzentrierten Beweglichkeit erfahrbar bleibt. Zum eigentlichen Dialog mit den auf Tonband gespeicherten Klängen kommt es erst im mittleren Teil, wobei sich ein spannungsvoller Antagonismus aus dem Kontrast von flächigen, kontinuierlichen, fluktuierenden Ereignissen und den eher diskreten, harten, punktuellen Aktionen des Klaviers (bestehend aus springenden Dreiklangimpulsen) ergibt. Am Ende dieses Teils nähern sich beide Seiten einander - und dumpfes, regelmäßiges Pulsieren, vom Synthesizer übernommen, ins Klavier delegiert, leitet zum Schlussteil über. Wieder entfaltet sich ganz allmählich, leise, im trockenen Stakkato, von der Bassregion her ein kontrapunktisches Gewebe. Nachdem es in weichen Pedalklang gebettet ist und für einen Augenblick sich als Reprise zu erkennen gibt, löst es die Stimmfäden auf und zergeht in die Motivreste der Reihe - auf C schließend wie diese begann.

Frank Schneider


KARLHEINZ STOCKHAUSEN: Mantra für zwei Pianisten (1970)

Am Ende der sechziger Jahre waren Karlheinz Stockhausens Versuche, die musikalische Intuition auf dem Wege der intuitiven Musik einer kompositorisch-rationalen Kontrolle zu unterstellen, in ein kritisches Stadium geraten. Inwieweit intuitive Musik dabei zu im Verständnis Stockhausens sinnvollen musikalischen Ergebnissen geführt hat, muss ebenso wie die Frage, ob aus einer derartigen Ausweitung des kompositorischen Subjektes auf das Unbewusste nicht doch ein hypertropher Zug spricht, hier unbeantwortet bleiben. Dass Stockhausen 1970 mit Mantra wieder zu einer bis ins kleinste notierten Musik zurückkehrt, könnte als die Antwort des Komponisten verstanden werden. Das Erlebnis der Weltausstellung Osaka, das ihn mit Interpretationen seiner intuitiven Musik konfrontierte, die in keiner Weise dem musikalisch von ihm Gemeinten entsprachen, mochte ein Beweggrund gewesen sein, wieder eine genau notierte Komposition zu verfassen. Zugleich hatte Stockhausen sich seit längerer Zeit - im Grunde seit den Originalen - mit verschiedenen Möglichkeiten eines musikalischen Theaterstückes speziell für die Brüder Kontarsky auseinandergesetzt. Dieses Stück, das in Skizzen noch Vision heißt, ist zu diesem Zeitpunkt auch noch in jener Symbolschrift der "intuitiven" Periode skizziert. Es zeigt sich dabei, dass der Weg zu dem notierten Endergebnis keinen wirklichen Bruch darstellt. Der Komponist nutzt genau die Verfahren, die er zuvor umschrieben hatte.

Mantra ist ein in mehrfacher Hinsicht zentrales Werk. Die Kompositionstechniken, die für den Zyklus Licht grundlegend sind, werden hier erstmals wieder in einem größeren kompositorischen Zusammenhang ausgefaltet Zwar greift Stockhausen mit der Formelkomposition auf ein Verfahren zurück, das er bereits in seiner frühen Komposition Formel 1951 angewandt hatte. Aus der starren Versuchsanordnung der frühen fünfziger Jahre (die aber gerade dadurch, dass das Verfahren starr angewandt wurde, eine andersartige Syntax entwerfen konnte) wird nun ein virtuos-flexibel gehandhabter Organismus, den das Hören nur noch subkutan registriert. Es scheint, als werde gerade in Mantra noch eine weitere Vorstellung - zumindest in Andeutung - exponiert: der Instrumentalpart als szenischer Bedeutungsträger. Damit ist nicht die Stelle gemeint, da die beiden Pianisten in gewisser Weise aus dem Musikstück - und ihrer konventionellen Rolle - heraustreten, nicht das immer existente theatralische Moment der Konzertsituation. Die gesamte musikalische Konfiguration ist als die zweier Protagonisten - sowohl der beiden Pianisten, die konsequenterweise auch die Modulatoren selber bedienen, als auch der beiden Klaviere - angelegt. Es sei nur die Stelle benannt, da das eine Klavier über das andere "lacht", als es sich verspielt. Es bleibt unbestimmt, ob der eine Pianist über den anderen "lacht" (dies würde der Titel der Komposition nahelegen), oder ob die Instrumente sich nicht als handelnde Elemente in gewisser Weise verselbständigt haben.

In der Reihe der Kompositionen nach Mantra zeigt sich zudem, dass nunmehr auch solche musikalischen Elemente, die vormals unter das Tabu gefallen waren und die in einer Komposition der fünfziger Jahre undenkbar gewesen wären, wieder zur Verfügung stehen. Die harmonischen Zusammenhangsbildungen in den Tierkreismelodien wie die Jazz- Elemente im zweiten Akt von Donnerstag sind kein "Rückfall". Philip Glass nannte eines seiner frühen Werke Another Look at Harmony. Es ist ebenso der andere Blick Stockhausens, der die ehedem diskreditierten Materialien gleichsam "erlöst", ihnen eine neue positive Substantialität verleiht. Weder wird in Tierkreis eine Tonalität klassischen Verständnisses restituiert, noch suchen die Jazzfloskeln in Michaels Reise um die Erde die Grenzüberschreitung zur Unterhaltungsmusik. Vielmehr haben diese Momente in den mehr als zwanzig Jahren ihrer Nicht-Benutzung sowohl ihre negative Aura eingebüßt als auch eine überraschende Frische gewonnen.

Die Ringmodulatoren in Mantra, deren akustisches Ergebnis manchem heutigen Hörer als beinahe archaisches Residuum erscheinen mag, wer- den eher in einem harmonischen Sinne eingesetzt. Der klangverfremdende Effekt ist nur das Nebenprodukt einer hauptsächlich harmonisch zu begreifenden Funktion. Durch die Ringmodulation, deren Grundfrequenz in der Folge der Reihe fortschreitet und dabei in immer größere Differenz zu den tonalen Zentren der einzelnen Formeldurchgänge treten, wird eine Akkordik höheren Grades ins Werk gesetzt: eine allein von der Vorstellung bestimmte Instanz wird in eine physikalische Realität überführt.

Klaus Ebbeke

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