Bandbreite

4. Konzert


ANDRE WERNER: Canti Muti (Schweigende Gesänge)

in der Fassung für 4 Sprecher, Live-Elektronik und Tonband (1988)

Canti Muti ist 1987 als Tonbandkomposition entstanden; der Untertitel "Elektro-akustische Oper" meint das Ausgangsmaterial Sprache wie auch ein - in Teilen - formales Verhältnis zur Gattung - fern davon die Konversation vierer Personen, zur Sprache gebracht. (Die Komposition wurde im elektronischen Studio der HdK Berlin produziert und 1988 auf der ICMC in Köln vorgestellt). In der Live-Version treten 4 Sprecher und Live-Elektronik (direkte Sprachumformung, Verstärkung, Raumklangverteilung) zu vorproduziertem Tonbandmaterial; entsemantisierte Sprache sieht sich hier mit ihrem Ursprung konfrontiert / kongruiert.

Texte:

Euripides Die Bakchen Einzugslied
Hölderlin Das Fröhliche Leben 1. Strophe
Kafka Tagebücher - 4.8.1917 - "Die Lärmtrompeten des Nichts"
Weiss Ermittlung Gesang von der Rampe

Das trunkene Lied:

o Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief -,
aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: vergeh!
doch alle Lust will Ewigkeit-,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!

F. Nietzsche Zarathustra IV

Andre Werner


ISABEL MUNDRY: rue narcisse (1988)

für Mezzosopran, Flöte, Viola, Tonband und Live-Elektronik

Der Verlauf des Stückes lässt sich in mehrere Abschnitte gliedern, die unterschiedlich geformt sind.

Im ersten Teil, der einen vom Tonband erscheinenden Vorspann überschneidet, bewegen sich Stimme und Bassflöte in jeweils eng begrenzten Tonräumen, die durch das Intervall einer "kleinen" Quinte voneinander getrennt sind, während die Viola in Textur und Rhythmus von den anderen unabhängig verläuft. Der Text ist einem Skaldenvers von Egill Skallagrimsson (10. Jh.) entnommen:

Mjok erum tregt                          Es wird mir schwer
tungu at hœra,                             die Zunge zu rühren
met (?) loptvaett                         mit dem Luftgewicht
ljótpundara;                                 die Liedwaage (die Zunge)
era nú vœnligt                             es steht schlecht
um Viturs pyfi,                             um Vidurs (Odins) Diebesgut
ne hógdrœgt                                nicht leicht ist es zu ziehen
ór hugar fylgsni.                          aus dem Versteck des Gemüts (der Brust).

Im nächsten Abschnitt erscheint das Ensemble in zweifacher Form: Die Spieler auf der Bühne spielen Gruppen, deren genaue Reihenfolge in einem ungefähr vorgezeichneten Weg sie jeweils unabhängig voneinander bestimmen können, so dass der musikalische Prozess in einzelnen Momenten dem Zufall unterliegt.

Gleichzeitig erklingt vom Tonband ein genau determiniertes Zusammenspiel der drei Spieler, welches sich erst nach und nach auflöst.

So erscheint das organisierte Ensemble als fiktives (räumlich diffus verteilt) aus den Lautsprechern, während die real spielenden Instrumente in ihren individuellen Verläufen für sich bleiben.

Im folgenden Teil, der den Kern des Stückes bildet, verhalten sich die Verläufe der drei "Stimmen" zueinander und zu einer teils erklingenden, teils gedachten Mittelachse in Spiegelverhältnissen. Jede Bewegung findet ihre Rückführung, das Gesagte entspricht darin dem Gehörten, das entsprechende Ich spiegelt das Ich wieder, zu dem gesprochen wird. Der Text entstammt dem Zentrum eines Palindroms (ein Text, der in der zweiten Hälfte die rückläufige Buchstabenreihenfolge der ersten enthält) von G. Perec:

... Saluts: angiome. T' es si crâneur! Rue. Narcisse! T' empoignas-tu! L' ascèse, là. sur ...

Die anschließende "Einblendung" bezieht sich andeutungsweise auf das vom Tonband erklingende Ensemble des zweiten Abschnittes. Eingefügt in längere Pausen und ohne einen deutlichen Verlauf bleiben die in den Momenten ihres Erscheinens teilweise überkonzentrierten Ausschnitte eines "sich selbständig entfaltenden" Ensembles dem Eindruck des Unwirklichen verhaftet.

Dieser Abschnitt mündet in einen Schlussteil, in welchem die drei "Stimmen" auf lang gehaltenen Liegetönen minimal glissieren, während sie durch live-elektronische Tonhöhentranspositionen jeweils verdoppelt werden und zu sich selbst Schwebungen bilden. Die Rahmentöne ihrer Glissandobewegungen werden nach und nach vom Tonband durch Liegetöne (transponierte Flageolettöne der Viola) übernommen: Landschaft und Bewusstsein unterschieden sich nur dadurch, dass das eine Ausdruck des anderen ist.

Nachspann

Isabel Mundry


ORM FINNENDAHL: JERICHO (1988)

für Tuba, Schlagzeug und Tonband

Die Komposition wurde aus JERICHO für Tonband (1988 produziert im Elektronischen Studio der TU Berlin) entwickelt; neben den aufgefächerten Trompetenklangstrukturen der Tonbandkomposition bilden aus Tuba-Klängen geformte Elemente das Material der Zuspielbänder; Tuba und Schlagzeug spielen komponierte wie (Schlagzeug) improvisierte, auch "Form zeigende" Abschnitte in verschiedenen Texturrelationen.

Hanspeter Kyburz, Isabel Mundry und Andre Werner zeichnen für die Realisation von JERICHO verantwortlich, da sich der Orm Finnendahl in den USA befindet.


HANSPETER KYBURZ: ABLUTIONS ERRANTES AU MOIS DE MAI (1988)
für Soloflöte, Violine, Cello, Klarinette, Stimme, Tonband und Live-Elektronik

Die zeitlichen Proportionen des Stückes gehen auf Samuel Becketts Hörspiel Cascando zurück, der gesungene Text auf ein Anagramm von Georges Perec:

SATINORBLEU          Satin, or bleu, trouble sain.

TROUBLESAIN          Rite: nous balbutions la réalité.

RITENOUSBAL          Nous brûlons,

BUTIONSLARE          Abrite la brune toison, brutalise

ALITENOUSBR          le Bâton suri, ablutions errantes:

ULONSABRITE          oubli ...

LABRUNETOIS

ONBRUTALISE

LEBATONSURI

ABLUTIONSER

RANTESOUBLI                                 Paris, 27. Juni 1975

11 verschiedene Buchstaben, die sich in jeder neuen Zeile wiederholen: In jedem wirklichen Augenblick der Verzweiflung trägt der Verzweifelte all das Vorhergehende in der Möglichkeit wie Gegenwärtiges. (S. Kierkegaard)

In antiphonisch wechselnden Abschnitten, die durch Pausen voneinander getrennt sind, entwickeln der Flötist, das Ensemble und zwei flöten auf den Tonbändern einen Prozess, der - durch verschiedene Wiederholungsstrukturen immer wieder gefährdet - fast unmerklich die Identität der einzelnen Schichten auslöscht:

·      Der solistische Live-Flötist, festgenagelt an das "Hier und Jetzt", entwickelt in Ensemble- und Tonbandpassagen sich selbst als Möglichkeit. Im Wissen um die Nichtigkeit seiner Projektionen, ist er gezwungen, sich der Zeit, jener dunklen, unverletzlichen Göttin, zu beugen: er "verschwendet" sich in wiederholten Versuchen klanglich an den Raum, der ihn umgibt, und verzweifelt - in Ermangelung seiner Wirklichkeit - am Anderen, das nicht aufhört sich nicht zu schreiben.

·      Die beiden Flötensoli des Tonbandes (eine Bassflöte, die in normaler und eine Normalflöte, die in Viertelaufnahmegeschwindigkeit abgespielt wird) stehen in einer Art perspektivischer Staffelung als Bild im Bild sich und der Live-Flöte unvereinbar gegenüber. Im Verlauf ihrer konträren Entwicklungen (rückläufiger rhythmischer Proportionskanon) nähern sie sich einander an.

·      Das Ensemble schließlich verbirgt im Wechsel zwischen polyphoner Stimmkonkretion und klanglicher Indifferenz mehr, als es ausspricht. Als offener Sinnhorizont wird es im letzten Teil des Stückes durch die live-elektronische Verfremdung selbst zweifelhaft.

Im "Namenlosen" hat Samuel Beckett sich als "Ich" konfrontiert mit sich selbst als einer früheren Romanfigur, Malone. Ähnlich gespenstisch und regungslos zog eine frühere Fassung des Stückes immer wieder an mir vorüber und auch diese neue träumt mich - es sei denn, Ihre Majestät, das Vergessen nimmt sich ihrer an.                   Hanspeter Kyburz

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