INVENTIONEN'86
Vortrag zur Festivaleröffnung: Klaus Schöning "Komponisten als Hörspielmacher"


Festivaleröffnung:

Ausstellung mit Partituren und akustischen Installationen von:
John Driscoll, Jean Dupuy, Stephan von Huene, Gerhard Rühm und Emmett Williams.
Einführende Worte von Wieland Schmied.
Willem de Ridder und Alvin Curran stellen ihr Projekt "Walkman Berlin 1986" vor.
Stephan von Huene: "Die Zauberflöte" - akustische Installation

Eröffnung der Audiothek "Komponisten als Hörspielmacher".
Die Audiothek entstand in Zusammenarbeit mit dem WDR Köln (Redaktion: Klaus Schöning, WDR3-Hörspielstudio).

Die WDR- Audiothek sind vom 28.2.1986 bis zum 9.3.1986
täglich von 16.00 bis 20.00 Uhr geöffnet.

KLAUS SCHÖNING: Anmerkungen zur "1. ACUSTICA INTERNATIONAL Komponisten als Hörspielmacher" - WDR Köln 1985

"YOU GIVE US TWENTY-TWO MINUTES
WE'LL GIVE YOU THE WORLD."
(John Cage)

Vom 27. September bis 1. Oktober 1985 fand in Köln die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL statt. Eingeladen dazu hatte der Westdeutsche Rundfunk und organisiert wurde dieses Festival der akustischen Kunst von der Redaktion WDR3-HörSpielStudio unter dem Motto "Komponisten als Hörspielmacher". Co-Partner waren das Kulturamt der Stadt Köln, die Staatliche Musikhochschule und der Kölnische Kunstverein.
Eine der Absichten, die wir mit diesem Festival verbunden hatten, war es - außerhalb unserer wöchentlichen Workshop-Sendung im WDR3- HörSpielStudio - gleichsam wie in einem Focus aufmerksam zu machen auf die grenzüberschreitende Arbeit zahlreicher Komponisten als Hörspielmacher und damit verbunden auf die Veränderungen und erweiterten Möglichkeiten der akustischen Kunst.
Ansätze zu einer Entwicklung "Komponisten als Hörspielmacher" finden sich bereits in den zwanziger Jahren; in den fünfziger Jahren hätten sie erweitert werden können, als - außerhalb der Radiodramaturgien - zum Beispiel John Cage seine wegweisenden Tonband-Collagen und Kompositionen mit Radioapparaten realisierte, als zur selben Zeit im Radio in den Pariser Studios der ORTF Pierre Henry und Pierre Schaeffer an ihren hörspiel-verwandten Tonband-Kompositionen der musique concrète arbeiteten. Als Mitte der sechziger Jahre zahlreiche Schriftsteller, Regisseure und Dramaturgen die akustisch/kompositorischen Möglichkeiten des HörSpiels im Radio neu definierten und entwickelten (Ernst Jandl: "HörSpiel ist ein doppelter Imperativ!"), die Gleichwertigkeit von Sprache, Musik und Geräusch in die Ästhetik der akustischen Kunst mit einbezogen und auch das Prinzip der Collage im HörSpiel einsetzten, erschien es konsequent, dass sich auch Komponisten verstärkt der vielfarbigen Offenheit und undogmatischen Ästhetik dieses Neuen Hörspiels zuwandten. Bisher hatten sie Musik für Hörspiele komponiert, sie wurden nun zu Hörspielmachern, die ihre eigenen Hörspielkonzepte als Autor/Regisseure selbst realisierten.
1969 setzte eine Entwicklung ein, die im WDR bis heute zu über 60 Realisationen internationaler Komponisten als Hörspielmacher führte. Mauricio Kagel definierte: "Das Hörspiel ist weder eine musikalische noch eine literarische, sondern lediglich eine akustische Gattung unbestimmten Inhalts." Dieser Definition folgend realisierte er bisher zehn Hörspiele für das WDR3-HörSpielStudio. Die Konzeption der Redaktion war von Anfang an, komplementär zur Produktion von Hörspielen, auf die perspektivische Erforschung neuer Tendenzen innerhalb der akustischen Kunst angelegt. 1970 fand diese Entwicklung einen programmatischen Ausdruck in der bis heute bestehenden Reihe "Komponisten als Hörspielmacher".
Im selben Jahr kam es im Rahmen der "Kölner Kurse für Neue Musik", geleitet von Mauricio Kagel, zum ersten Komponisten-Hörspiel-Seminar mit dem Arbeitstitel "Musik als Hörspiel", einer Kooperation zwischen dem WDR-Hörspiel und der Rheinischen Musikschule. In dem mehrwöchigen Verlauf dieser Kurse lernten junge Komponisten Hörspieltheorie und -praxis kennen und produzierten drei Hörspiele, die – zu dieser Zeit noch ungewöhnlich – im WDR-Sendesaal öffentlich aufgeführt, diskutiert und gesendet wurden. 1975 führten wir ein weiteres Hörspiel-Seminar für Komponisten auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik durch.
Obschon Hörspiele von Komponisten nicht im Zentrum des Programmangebots der Sender stehen und ihre Rezeption zuweilen einige unerwartete Anforderungen an den Zuhörer stellt, haben sie die allgemeine Ästhetik und Praxis des Hörspiels als eigentlich akustischer Kunst weiter fundiert. Viele dieser Komponisten-Hörspiele sind von internationalen Radiostationen übernommen, mit Preisen ausgezeichnet und auf Festivals vorgestellt worden. In zahlreichen Sendungen wurde ihre Ästhetik analysiert.
Eine weitere Absicht dieses Festivals war es, über die Sendung hinaus, Erfahrungen zu sammeln, inwieweit es für das HörSpiel möglich ist, zum Initiator von öffentlichen Präsentationen zu werden. Die Produktion von HörSpielen wird vor einem Publikum nach draußen verlagert, visuelle Komponenten kommen hinzu, verändern die Rezeption; das Ereignis ist jedoch ins Radio eingebunden, sei es als Live-Sendung oder als Mitschnitt für spätere Sendungen. Eine Situation, die für Musik-Konzerte im Radio gängige Praxis ist, die das HörSpiel bisher jedoch nur in Ansätzen konsequent wahrgenommen hat. Das Hörspiel hatte jahrzehntelang in seiner schon frühen Abwendung von der darstellenden Schau-Bühne zur inneren Bühne und im einsamen (Radio-)Hören sein Selbstverständnis gefunden. Das akustische Medium Hörspiel kam also im Gegensatz zum akustischen Medium Musik ganz ohne die Sichtbarkeit von Ausführenden vor einem Publikum aus. Die Unsichtbarkeit der Darbietung übers Radio entspricht der Unsichtbarkeit des anonymen Hörers vor dem Lautsprecher.
In Erinnerung gerufen seien jedoch Versuche Ende der 20er Jahre, das Hörspiel mit anderen Medien zu verbinden, die Bertolt Brecht, Paul Hindemith, Kurt Weill und der erste Intendant des WDR, Ernst Hardt unternahmen, um zum Beispiel den "Lindbergh-Flug" als Konzert vor Publikum auf der Bühne aufzuführen und zu senden. Erinnert sei an die Versuche des Cineasten und Hörspielmachers Walther Ruttmann, eine Hörspiel/Filmsprache durch Montage zu entwickeln. Die allgemeine Hörspielproduktion nahm an diesen Möglichkeiten nicht teil, und so übernahmen die Filmemacher die weitere Entwicklung des HörSpiels im Film, machten den Film zum Ton-Film und das Hörspiel zum Filmton. Bis heute blieben die Möglichkeiten des HörSpielfilms, des FilmhörSpiels, in dem beide Medien gleichberechtigt und komplementär sich verbinden, nahezu ungenutzt.
Die in den letzten fünfzehn Jahren in der Reihe "Komponisten als Hörspielmacher" gesendeten Hörstücke sind eigenständige akustische Werke, die zum konzentrierten und auch mehrmaligen Hören anregen. Es sind jedoch diese akustisch "diffizilen musikalischen" HörSpiele, die häufig zu mehrmedialen Aufführungen bei Festivals, in Theater-, Konzert-, Kinosälen und in Kirchen eingeladen werden. Die bisher längste Spielzeit mit über 25 Produktionen sprachmusikalischer Hörspiele veranstaltet der WDR zusammen mit der Alten Oper seit über zwei Jahren in Frankfurt. Mit dem verstärkten Interesse der Audio-Artisten, Performance-Künstler und Komponisten am HörSpiel wird eine jahrzehntelang uneingelöste Möglichkeit, die öffentliche Vorführung von HörSpielen, wieder neu belebt, reflektiert und ausprobiert. Dass diese Versuche beim Publikum auf Interesse stoßen, machte auch die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL deutlich. Neben Lautsprecher-Konzerten haben wir in den letzten Jahren vielfältige Formen der Präsentation von HörSpielen weiterentwickelt: die HörSpiel-Performance, das Raumklang-Konzert, das Film- und Fernseh-HörSpiel, die KlangSkulptur, das HörSpiel-Ballett. Einige Beispiele: Das Hörspiel "Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnegans Wake" von John Cage zeigt in immer neuen Varianten das Transitorische seiner medialen Möglichkeiten: als HörSpiel fürs Radio und als Raumklang-Konzert über viele Lautsprecher, als Live-Performance mit John Cage und irischen Musikern, dazu die polyphone Raumklang-Komposition vom Tonband, als HörSpielBallett, getanzt von der Merce Cunningham Dance Company bei den Festivals in Lille, Avignon und Frankfurt.
HörSpiele in szenisch-musikalischer Form werden auch seit einigen Jahren in der "Nachtmusik im WDR" vor Publikum öffentlich vorgestellt und gleichzeitig gesendet. So etwa Mauricio Kagels "Rrrrrrr …. Hörspiel über eine Radiophantasie", dazu stumm auf der Bühne agierend synchron/asynchron zur eigenen Stimme der Schauspieler Gert Haucke. Aus diesem HörSpiel-Theater wurde das Fernsehspiel "Er". Ebenfalls in der "Nachtmusik im WDR" Vinko Globokars Hörspiel "Individuum/Collectivus 13 C mal acht" als Tonbandstück mit Live-Improvisationen der Musiker, und Juan Allende-Blins "Rapport sonore. Relato sonoro. Klangbericht" als Raumklang-HörSpiel über 16 Lautsprecher.
Die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL stellte so in einem konzentrierten Ausschnitt die Vielfalt dieser Entwicklungen in einem allen zugänglichen offenen Produktionsprozess vor. Eingeladen waren nahezu alle Komponisten, mit denen wir bisher gearbeitet hatten: John Cage, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Bill Fontana, Malcolm Goldstein, Alison Knowles, Gerhard Rühm, Juan AIlende-Blin, Henri Chopin, Clarenz Barlow, Carola Bauckholt, Hans Otte, Robert HP Platz, Pierre Henry, Tom Johnson, Charlie Morrow, Stephan Wunderlich, Peter Behrendsen, Vinko Globokar. Hinzu kamen Wissenschaftler und Autoren wie Franz Mon, Ferdinand Kriwet, Rudolf Frisius, Reinhard Döhl, Heinz-Klaus Metzger, Klaus Ramm, Michael Schäfermeyer, Jerzy Tuszewsky und Heinrich Vormweg. Sie hatten zusammen mit den Komponisten im HörSpielStudio seit Jahren in zahlreichen Sendungen das Hörspiel im Grenzbereich zwischen Musik und Literatur analysiert.
Über 20 HörSpiele wurden auf der 1. ACUSTICA INTERNATIONAL von ihren Komponisten in einem fünftägigen, von morgens bis Mitternacht ablaufenden Programm in zumeist mehrmedialen Aufführungen vorgestellt. In das Festival integriert waren fünf Forum-Veranstaltungen, in denen unter thematischen Schwerpunkten Vorträge gehalten wurden. Beginnend mit einer Spurensuche von Juan Allende-Blin zur "Archäologie des Hörspiels", einem Essay von Reinhard Döhl über die Korrespondenz von "Musik und Hörspiel" im Radio, einem Essay von Heinz Klaus Metzger "Über die Vorteile des Unsichtbaren", einem Referat von Rudolf Frisius über "Hörspieltheorie und Musiktheorie" und einem Vortrag von Gerhard Rühm über "musiksprache - sprachmusik ", Diese Vorträge wurden ebenso wie sämtliche HörSpiel-Aufführungen mitgeschnitten und im WDR3-HörSpielStudio gesendet.
Parallel zu den Veranstaltungen hatten wir eine Ausstellung und Audiothek "Notationen - Realisationen" im Kölnischen Kunstverein vom 27. September bis 6. Oktober eingerichtet, Ausgestellt wurden dort erstmals HörSpiel-Partituren und in einer eigens eingerichteten Audiothek waren sämtliche für uns produzierten Komponisten-HörSpiele über Kopfhörer zu hören. Die Audiothek ist jetzt beim Festival "Inventionen/Sprachen der Künste" in Berlin zu Gast.
Nirgends als in der Vielfalt der HörSpiel-Notationen und -Realisationen von Komponisten wird deutlicher, wie sehr das Hörspiel heute seine Möglichkeiten, autonome akustische Kunst zu sein, erweitert hat. Nirgends wird deutlicher, wie fragmentarisch - und wie präzise - diese akustische Kunst sich schriftlich notieren lässt. Das Tonband ist das Pergament der Notation. Doch selbst die Tonband-Notation ist zuweilen nur präzises Fragment, ist Teil eines noch nicht notierten Ereignisses: im Live-HörSpiel. Die Tonbandaufnahme des Live-Hörspiels wird zur akustischen Notation der Realisation, wird verfügbar im Archiv (im offenen Grab der akustischen Kunst). Die schriftliche Notation der akustischen Realisation wird (fragmentarisch) verfügbar in der Renotation. Viele HörSpiele der Komponisten sind schriftlich nur verfügbar in diesen nach der Produktion angefertigten Renotationen. Die Renotationen weisen auf die Ferne von Schriftlichem und Hörbarem von Hörspieltext/Notation und HörSpiel. Notationen und Renotationen von HörSpielen können auch zu visuellen Ereignissen werden, zu visueller Kunst. (Ebenso wie die schriftlichen Beschreibungen akustischer Ereignisse des HörSpiels zu Literatur werden können.) HörSpiel fluktuierend in vielen Medien.
Gleichsam akustisch eingebettet waren die Veranstaltungen vom ersten bis zum letzten Tag in eine große akustische KlangSkulptur "Metropolis Köln" von Bill Fontana, in der Hunderte von Geräuschen und Tönen der Stadt Köln auf dem Platz vor dem Dom live übertragen wurden. 18 Mikrophone nahmen die Geräusche des Rheins, vier Kölner Brücken, der Glocken der romanischen Kirchen, der Fußgängerzonen, des Zoos und des Hauptbahnhofs auf; über 18 Lautsprecher auf dem Domplatz wiedergegeben, entstand eine Klangkomposition der Stadt Köln. Es war das längste Open-Air-Hörspiel in der Geschichte und stieß auf außerordentlichen Zuspruch der Bevölkerung. Ein langanhaltendes Konzert, das die Domstadt selbst intonierte. Eine Stunde live gesendet wurde dieses klingende Köln auch über WDR 3 am Samstagmittag, wobei sechs Geläute romanischer Kirchen aktiv an der Sendung beteiligt waren. (Für 1987 bereiten wir in Köln eine transatlantische Ohr-Brücke über Satellit vor, die die KlangSkulpturen der beiden Städte San Francisco und Köln miteinander verbinden soll.)
Auf dem Platz vor der Kathedrale dann ein HörSpiel als Theater-Performance: Mauricio Kagel in der Rolle seines "Tribun. Für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher", für das der Komponist seinerzeit mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde. "Kagel sprach den Tribun auf dem Roncalliplatz so echt, traf den Ton demagogischer Rede so genau, dass ein Passant mich verschüchtert fragte, wer denn der Redner sei und zu welcher Partei er gehöre. Behaupte noch einer, Radiokunst habe mit Wirklichkeit wenig gemein, sei ein ästhetisches Elite-( Miss )-Vergnügen." (Ekkehard Skoruppa, epd, 9.10.85).
Am Abend im großen Sendesaal des Funkhauses stellte Gerhard Rühm erstmals als Hörspielkonzert sein ebenfalls ausgezeichnetes Werk "Wald, ein deutsches Requiem, ein dokumentarisches Stück über das Waldsterben", vor, "das den hörer zu eigener stellungnahme provozieren will" (G. Rühm). Danach zwei HörSpiel-Uraufführungen als Live-Performances: Die Fluxus-Künstlerin Alison Knowles mit "Papier-Wetter" und Malcolm Goldstein "The edges of sound within". Beispiele der Performance-Kunst und Minimal Art, die insbesondere in den USA entwickelt wurden und seit einiger Zeit eine produktive wechselwirkende Verbindung bei uns mit dem HörSpiel eingegangen sind. Im zweiten Teil des Abends, in einer Raumklang-Aufführung über acht Lautsprecher "Muoyce" (Music + Joyce). John Cage intonierte flüsternd seinen laut-poetischen, meditativen Text, begleitet von seinen eigenen Stimmen auf Tonband und den zehn Donnerschlägen aus "Finnegans Wake". Konsequente Überführung des Sprechens bis an die Grenze des Schweigens. "Sounds are only bubbles on the surcade of silence." Kontrapunkt zum lautfarbigen "Roaratorio". "Silence sometimes can be very loud." "Muoyce" und "Roaratorio": zwei Seiten ein und derselben Erfahrung.
Die Matinee am Sonntagvormittag mit zwei Live-Performances und zwei HörSpiel-Tonbandvorführungen: Henri Chopin eröffnete mit einem Laut-Konzert, einem artikulatorischen Audio-Poem: Poesie orale, die keine Grenze der Verständlichkeit kennt und sich spontan vermittelt. Acustica International. Auflösung der Sprachen in Lautsprache bei John Cage, Malcolm Goldstein, Henri Chopin. Überführung in eine allen verständliche Sprache. Utopischer Entwurf in vielen künstlerischen Artikulationen dieses Jahrhunderts. Verlust der Sprache als Regression, als schmerzlicher Verlust von Sprache in: "Muttersprachlos" von Juan Allende-Blin: eine dokumentarische Komposition über das Schicksal einer jüdischen Schriftstellerin. In seinem "Traumgesang" reagierte Charly Morrow vor dem Mikrophon mit seiner Stimme spontan auf das Gehörte. Ebenfalls eine Uraufführung: "Die gestohlenen Klänge", ein satirisches HörSpiel auf den aktuellen Musikbetrieb von Vinko Globokar. Das Thema der gestohlenen Klänge setzte Vinko Globokar am Abend fort in der Uraufführung seiner musik-theatralischen Performance "Konsequenz der Konsequenz".
Das Thema "Hörspiel in vielen Medien", das das gesamte Festival charakterisierte, wurde auch in den anderen Beiträgen weiter ausgeführt. John Cage trug sein für die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL geschriebenes Mesostichon "h2 WDR" vor. Er hatte den Titel des Festivals ganz konkret genommen, ihn reflektiert und ihn in einer Weise, die weit über den Anlass hinausging, beantwortet: "denation us ." Dieter Schnebel, der in den letzten Jahren zwei HörSpiele realisiert hatte, trug gleichsam als akustischen Keim eines neuen Projektes seine artikulatorischen "An-Sätze für Selbst- und Mitlaute" vor. Mediale Varianten einer künstlerischen Idee veranschaulichte die simultane Präsentation von zwei Werken Mauricio Kagels: einem HörSpiel und einem Fernsehspiel. Reaktionen eines Hörers auf das Musikprogrammangebot des Radios. Während das HörSpiel "Rrrrrrr … Hörspiel über eine Radiophantasie" über WDR 3 gesendet wurde, war das Fernsehspiel "Er", dessen Soundtrack das HörSpiel bildete, im WDR-Sendesaal zu sehen und zu hören. Im Anschluss daran stellte Stephan Wunderlich sein mit dem diesjährigen Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnetes WDR-Hörstück "Tagesproduktion " vor.
Am Abend die Uraufführung eines weiteren audio-visuellen Werkes: der HörSpielfilm "La Ville /Die Stadt - Metropolis Paris /Berlin". Pierre Henry hatte seine Klangkomposition über Paris (WDR 1984) mit einem dokumentarischen Montagefilm (1927) von Walther Ruttmann über das Berlin der zwanziger Jahre für die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL "synchronisiert". Er führte dieses "Film-Konzert", wie er es nannte, über acht Lautsprecher vor. Erstmals als Raumklang-Kompositionen über mehrere Lautsprecher zu hören waren die beiden Hörspiele "Requiem" von Robert HP Platz und "CCU" von Clarenz Barlow, eine polyphone Metropolis-Klangkomposition über Kalkutta.
Die Veranstaltungen am vierten Tag fanden in der Musikhochschule Köln statt. Mauricio Kagel stellte anhand von Tonbeispielen spezifische Aspekte seiner umfangreichen Hörspielarbeit vor. Die Hörspiel-Aktivitäten in Universitäten, Schulen und der Musikhochschule Köln, sowie die Rezeption der akustischen Kunst im Spiegel der Presse wurden in Arbeitsberichten und Referaten vergegenwärtigt. Konkrete Ergebnisse junger Komponisten mit dem Hörspiel waren in einem anschließenden Tonband-Konzert zu hören. Am Abend dann in einer Live-Sendung das HörSpiel-Klavierkonzert von und mit Gerhard Rühm "Kleine Geschichte der Zivilisation", "das keiner worte bedarf, dessen 'geschichte' in der konfrontation von musik und geräusch unmittelbar sinnfällig wird" (G. Rühm). Daran anschließend zum ersten Mal in Köln als Raumklangereignis über 42 Lautsprecher das "Roaratorio" von und mit John Cage. Er sprach und sang seinen "Finnegans Wake"-Text, begleitet von zwei irischen Musikern und der Klangkomposition aus über zweitausend Geräuschen. (Eine "Sternstunde", schrieb eine Kritik.) Diese akustische Kosmogonie aus menschlichen Stimmen, Geräuschen, Naturlauten und Musik leitete gleichsam das Finale der 1. ACUSTICA INTERNATIONAL ein, die am darauffolgenden Tag ausklang in der roaratorischen KlangSkulptur "Metropolis Köln" auf dem Platz vor der Kathedrale.
Die Verteilung der einzelnen Events auf wechselnde verschiedene Plätze und Räume, der Wechsel der Präsentationsformen von Raumklang-Konzerten zu KlangSkulpturen, von Live-Sendungen zu HörSpielfilmen, von Performances zu Vorträgen, der Wechsel von drinnen und draußen, folgte einer offenen Dramaturgie, die "die Radiokunst in Bewegung" zeigte.
Jede Veranstaltung war eingebunden in den inszenierten Zusammenhang eines fünf Tage dauernden Ereignisses, an dem das Publikum - wie beim Radiohören - als Ganzes oder in einzelnen autonomen Teilen teilnehmen konnte. Ein multipler Erlebniszusammenhang ,in dem künstlerische Praxis und Reflektion eine Einheit bildeten. Ein Symposion, ein gastliches Treffen, das einlud mit offenen Augen zu hören.
Ein scheinbares Paradox wurde evident: Hörspiel als autonomes akustisches Werk fürs Radio und gleichzeitig initiatorischer Teil eines mehrmedialen künstlerischen Ereignisses. HörSpiel in selbstbewusstem Dialog - nicht in provinzieller Ausgrenzung - zu den sich im Fließen befindlichen Prozessen der allgemeinen künstlerischen Entwicklung. Radio als motorischer kultureller Faktor. Es mag sein, dass das Festival in seinen grenzüberschreitenden Fragestellungen und seinem experimentierenden Charakter Anregungen gegeben hat für ein erweitertes Selbstverständnis von Hörspielmachern und denen, die HörSpiele machen lassen. Eine der konkreten Konsequenzen für unsere Arbeit ist ein mit dem neuen "Preis ACUSTICA INTERNATIONAL" verbundener Produktionswettbewerb des WDR zur Förderung der akustischen Kunst auf internationaler Ebene.
Resonanzen: "Radiokunst hat in diesem Jahr ihr Medium erstmals publikumswirksam verlassen. Es gibt Anzeichen dafür, dass dem Hörspielfreund um die Zukunft der akustischen Kunst nicht bange sein muss." (Süddeutsche Zeitung, 3.1.86) "Das Hörspiel sprengt das Radio. Seitdem sich jenseits des traditionellen literarischen Hörspiels eine akustische Kunst entwickelt hat, in der Sprache, Geräusch und Musik gleichberechtigt nebeneinanderstehen, haben Komponisten radiophone Ausdrucksmittel benutzt und das Hörspiel durch Berührungen mit Tanz, Theater oder Live-Musik zu einer Performance-Kunst erweitert." (Kölnische Rundschau, 30.9.85) "Für manche überraschend: das Publikum strömte hinein.… Es war an der Zeit, einmal die formsprengenden, gattungsübergreifenden Innovationen des Komponisten-Hörspiels, das in erheblichem Maß die Ästhetik der Radiokunst mitbestimmt, in seiner Vielfalt gebündelt vorzustellen. … Dass dabei noch immer Hörspiel- und Konzertgewohnheit erschüttert und das Kunstverständnis von Zeitgenossen strapaziert werden kann, spricht nicht gegen, sondern für die Experimente. … ein Auswärtsspiel für das Hörspiel, ein Umweg über den Ausnahmezustand 'Festival', einer, der die vielfältigen Präsentationsformen rechtfertigte, der nicht zuletzt auch dem Hörspiel im Medium zugute kommen kann. … Ein lohnender Versuch, den Dialog um das Hörspiel aus den heiligen Rundfunkhallen in eine unmittelbarere Öffentlichkeit zu tragen. 'Ein Anfang', so Mauricio Kagel, ' - Fortsetzung folgt. '" (Evangelischer Pressedienst, Kirche und Rundfunk, 9.10.85)
"Ein ungelöstes Rätsel, wie man ein Neues Hörspiel, welches bislang ein intimes Hörerlebnis beabsichtigte, auf die Bühne zu bringen habe. Die Sprache als Bedeutungsträger zu eliminieren wäre der falsche Weg des Neuen Hörspiels." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.85) "Da das traditionelle Hörspiel von der Sprache her definiert ist, empfinden wir Sprache hörspielgerechter als bloße Klänge. Definiert sich das Hörspiel durch seinen Sprachanteil? Nein. Es definiert sich überhaupt nicht. " (MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik, Oktober 85) "Die Performances waren konstitutives Element dieses Festivals; die Ausweitung der Hörerfahrung vom einsamen Lautsprecherhören zum Erleben der Produktion durch den Komponisten vor Auditorium war mithin, soweit man das auch von sich weisen mag, auch eine mediendidaktische Maßnahme. Es waren in den meisten Fällen Anstiftungen zum Hör-Spielen. Man wünscht sich solche Anstiftungen noch in weiteren Festivals, in einer Fortsetzung mit einer 2. ACUSTICA INTERNATIONAL." (Funk-Korrespondenz, 4.10.85)

"Ein Festival, das Zuhörer in wachsender Zahl anzog. Morgens, mittags oder abends - die Säle waren meist ausgebucht. Die Gründe: noch nie sind - von John Cage bis Gerhard Rühm, von Mauricio Kagel bis Pierre Henry, von Alison Knowles bis Juan Allende-Blin - so viele Komponisten, die Hörspiele machen, zusammengekommen. Und wohl noch nie ist der 'Reichtum der akustischen Kunst' .. so vielseitig und so animierend an einem Ort hörbar geworden … Im Hörspiel geschieht noch immer vieles von dem, was in den vielfältigen künstlerischen Bemühungen tatsächlich in die Zukunft weist. So jedenfalls demonstrierte es die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL." (Heinrich Vormweg in seinem WDR-Kommentar zur 1. ACUSTICA INTERNATIONAL und in der Süddeutschen Zeitung, 10.10.85).
Blättert man weiter in den zahlreichen Pressemeldungen und Kritiken und hört die Sendungen, die über dieses Festival berichteten, so ist der Tenor überaus freundlich. Zuweilen stellt sich Verwunderung darüber ein, dass gerade diese "experimentelle" Form des HörSpiels, die eine internationale Tendenz verdeutlicht, auf eine so breite Resonanz stoßen konnte. Dies mag jenen zu denken geben, die dem HörSpiel als akustischer Kunst, in Unkenntnis seiner Vitalität und unberechenbaren Kreativität für die Zukunft nur wenig Chancen einräumen möchten.
John Cage, der 73jährige Senior des Festivals, dessen Schaffen ein einziger Hinweis ist auf den Reichtum der akustischen Kunst, hatte in seinem Poem für die 1. ACUSTICA INTERNATIONAL "h2 WDR" im letzten Satz einen Slogan einer US-Radiostation zitiert. Dieser könnte wie eine Aufforderung der Komponisten als Hörspielmacher verstanden werden, nicht nur an die Hörer, sondern auch an die Programmacher des Radios: "You give us twenty-two minutes we'll give you the world."


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"KOMPONISTEN ALS HÖRSPIELMACHER

Erstsendungen im WDR3-HörSpielStudio 1969 - 1985

In der Audiothek zu hörende Sendungen

* Hörspiele
o Essays, Analysen, Gespräche


1969

* MAURICIO KAGEL:
(Hörspiel) Ein Aufnahmezustand.
Karl-Sczuka-Preis
* GERHARD RÜHM:
Ophelia und die Wörter

1970

o HELMUT HEIßENBÜTTEL:
Musik und Hörspiel

1971

* DIETER SCHNEBEL:
(Hörfunk) Radiostücke I-V
(HR/WDR)
* MAURICIO KAGEL:
Guten Morgen
(Hörspiel aus Werbespots )

1973

* GERHARD RÜHM:
Blaubart vor der krummen Lanke
* TERA DE MAREZ-OYENS und FRANZ MON:
da du der bist
(WDR/NCRV)

1975

* MAURICIO KAGEL:
Soundtrack. Ein Film-Hörspiel.

1976

* GERHARD RÜHM:
Wintermärchen
Karl-Sczuka-Preis

1977

* BERND ALOIS ZIMMERMANN:
Requiem für einen jungen Dichter (1969)
* MAURICIO KAGEL:
Die Umkehrung Amerikas (WDR/KRO)
Prix Italia
o KLAUS SCHÖNING:
Hörspielmacher Mauricio Kagel
o RUDOLF FRISIUS:
Musik als Hörspiel - Hörspiel als Musik

1978

* MAURICIO KAGEL & KLAUS SCHÖNING:
Kleines Ohrganon des Hörspielmachens
1. Folge: Geräusch
2. Folge: Mikrofon
3. Folge: Manuskript und Dramaturgie
4. Folge: Schnitt
5. Folge: Pause
o HELMUT HEIßENBÜTTEL:
Was sollen wir senden?
Zu "Radiostücke I-V" von Dieter Schnebel

1979

* MAURICIO KAGEL:
Der Tribun
Hörspielpreis der Kriegsblinden
* JOHN CAGE:
Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnegans Wake.
(WDR/SDR/KRO/IRCAM)
Karl-Sczuka-Preis
o KLAUS SCHÖNING:
Hörspielmacher John Cage

1980

* CLARENZ BARLOW:
CCU. Metropolis Calcutta
* GERHARD RÜHM:
Kleine Geschichte der Zivilisation
o RUDOLF FRISIUS:
Geräusche - die Requisiten der Hörbühne. Vom illustrativen zum autonomen Geräusch
o KLAUS SCHÖNING:
Zu Roaratorio von John Cage.
Montage aus Dokumenten

1981

o GERHARD RÜHM:
Von der Lautdichtung zur radiophonen Poesie
o FRANZ MON:
Dada-Musik
o REINHARD DÖHL:
Versuch einer Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen:
Das Neue Hörspiel (1-4)
o RUDOLF FRISIUS:
Pierre Henry und sein Studio APSOME
o KLAUS SCHÖNING:
Text-Sound-Sound-Poetry USA:
John Cage, Alison Knowles, Jackson MacLow, Jonathan Albert, Philip Corner, Charlie Morrow, Richard Kostelanetz, Beth Andersen
o MAURICIO KAGEL:
Realität und Fiktion in Radio und Hörspiel
o REINHARD DÖHL:
Komponisten als Hörspielmacher.
Das Neue Hörspiel (5).

1982

* ALISON KNOWLES:
Bohnen-Sequenzen
Karl-Sczuka-Preis
* JOHN CAGE:
James Joyce, Marcel Duchamp, Erik Satie: Ein Alphabet
* MAURICIO KAGEL:
Rrrrrrr •••
Hörspiel über eine Radiophantasie
* PIERRE HENRY
Tagebuch meiner Töne
o HEINRICH VORMWEG:
Das Feld ist weit offen und von allen Seiten begehbar.
Hörspiel Anfang der 80er Jahre - Bilanz und Perspektive
o RUDOLF FRISIUS:
Musik: Kulisse im akustischen Stummfilm
o FRANS VAN ROSSUM & KLAUS SCHÖNING:
Funkelneu oder Composing the radio

1983

* VINKO GLOBOKAR:
Individuum/Collectivus
13 C mal 8
* JUAN ALLENDE-BLIN:
Rapport sonore. Relato sonore. Klangbericht
Karl-Sczuka-Preis
* GERHARD RÜHM:
Wald - Ein deutsches Requiem
Karl-Sczuka-Preis
* JOHN CAGE:
Themes & Variations
o KARL-HELMUT KARST:
WDR3-HörSpielStudio 1963-1983. Eine akustische Revue

1984

* JUAN ALLENDE-BLIN:
Les voies de la voix
* ALISON KNOWLES:
Natürliche Ansammlungen und die echte Krähe
* DORIS HAYS:
Celebration of No
* PIERRE HENRY:
La Ville / Die Stadt
* MAURICIO KAGEL:
… nach einer Lektüre von Orwell
* PETER BEHRENDSEN:
Die Musik des Herrn der gelben Erde
* JOHN CAGE:
Muoyce. Fifth Writing through Finnegans Wake
* JOHN CAGE:
HMCIEX
(WDR/ICA)
* MALCOLM GOLDSTEIN:
Marins Lied, illuminiert
* ROBERT HP PLATZ:
Requiem nach einem Text von Bernd Rauschenbach
* CHARLIE MORROW:
New Wilderness Big Mix
o JOHN CAGE/KLAUS SCHÖNING:
Gespräch
o RICHARD KOSTELANETZ:
Hörspielmacher Glenn Gould
o KLAUS SCHÖNING:
Radiokunst oder Kunst im Radio

1985

* BILL FONTANA:
Entfernte Züge Köln - Berlin
* TRANSIT COMMUNICATION:
Robinsonate
* THOMAS SCHULZ/RONALD STECKEL:
Das Haus spricht
* TOM JOHNSON:
Signale
* STEPHAN WUNDERLICH:
Tagesproduktion
Karl-Sczuka-Preis
* JUAN ALLENDE-BLIN:
Muttersprachlos
* HENRY CHOPIN:
Le Corpsbis
* VINKO GLOBOKAR:
Die gestohlenen Klänge
* MALCOLM GOLDSTEIN:
The edges of sound within
* ALISON KNOWLES:
PapierWetter
* ANNA TARDOS/JACKSON MACLOW:
Für Stimmen etc. ,
* MAURICIO KAGEL:
Cäcilie: Ausgeplündert. Ein Besuch bei der Heiligen
* JOHN CAGE:
Mushrooms et Variationes
o KLAUS SCHÖNING:
Sounds in Motion. Olympic Air Festival in Los Angeles
o RUDOLF FRISIUS:
Sprechoper oder Radiodrama

1986

* CARLO QUARTUCCI/CARLO TATÒ/SUKHI KANG:
Penthesilea-Aubade. Organische Fragmente nach Heinrich von Kleist


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