Freitag, 7.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 Akademie der Künste

3. Akademie-Konzert

Olivier Messiaen Quatre études de rythme (1949)
He de feu I
Mode de valeurs et d'Intensités
Neumes rythmiques
Ile de feu II
Hans Otte text für einen Flötisten (1972)
text für einen Schlagzeuger (1985) (UA)
Luigi Nono … sofferte onde serene… (1976)
für Klavier und Tonband
***
Luciano Berio Circles (1960)
nach Texten von e.e. cummings für Frauenstimme, Harfe und zwei Schlagzeuger
***
John Cage Concert for Piano and Ensemble (1957/58)

 

OLIVIER MESSIAEN: Quatre études de rythme

Messiaens Etüde "Mode de valeurs et d'Intensités", die zweite des Zyklus, gilt als der historische Ausgangspunkt der seriellen Musik.

Alle Eigenschaften des musikalischen Materials sind im voraus durch reihenmäßige Ordnungen bestimmt. Der Etüde liegen 2 x 12 Dauern, 3 x 12 Tonhöhen, 12 Anschlagsarten und 7 dynamische Grade zugrunde.

Damit wurde dieses Werk zum Schlüsselwerk für eine Reihe von Komponisten (Boulez, Stockhausen, Pousseur), die durch dieses strenge Verfahren zu bedeutenden Musikwerken angeregt wurden.

 

 


HANS OTTE

Mit Sprache habe ich mich vielfach und auf mannigfache Art und Weise kompositorisch auseinandergesetzt und zwar sowohl in meinen musikalischen Werken, in meinen experimentellen szenischen Arbeiten als auch in einer Reihe von Texten zum lesen, hören, zum schauen selbst.

Ich wollte Sprache in allen ihren Eigenschaften für mich kompositorisch entdecken, dann aber auch die Möglichkeiten des Zusammenhangs von Sprache, ihre Begegnung mit anderen Kategorien von Kunst, also: Sprache und Klang, Sprache und Gestus, Sprache und Bild/Raum überprüfen.

So habe ich zum Beispiel verschiedene Versuche gemacht, Formen der Sprache, des Sprechens selbst zum Thema, zum strukturellen Agens von Stücken für das Theater zu machen.

Wie in meinem musikalischen Theater "Modell" (1965), in dem ich Alltagssprache mithilfe ganz bestimmter Verfremdungstechniken beim Wort nahm, um so hinter dem Allzuvertrauten, Selbstverständlichen deren eigentliche Bedeutung und Sprachlosigkeit sichtbar, hörbar zu machen. In meinem Stück "nolimetangere" (1966/67) nehme ich den internationalisierten Sprachjargon der Popwelt auf, um ihm gleichzeitig mit zwei von ihm unabhängigen Ebenen: Film und Musik in Kontakt zu bringen. In meinem "nature morte" (1969), einem Theater für Schauspieler, setze ich im Verlauf der sieben Szenen Sprache, die ausschließlich aus dem Titel selbst und seiner englischen, italienischen und deutschen Übersetzung gewonnen war, stufenweise zusammen, von den Konsonanten, den Vokalen, ersten Silben bis hin zum ganzen Wort. Gleichzeitig vollzieht sich ein vergleichbarer Prozess in der Musik: Ein einziger Klang wird der Reihe nach in seinen verschiedenen Schichten entfaltet, wie auch in diesem Stück das Bühnenbild erst allmählich durch den Aufbau verschiedener Objekte entsteht, zusammengesetzt wird. In dem Kammertheater "dialog" (1971) zum Beispiel wiederholt die Schauspielerin einen ganz bestimmten Satz: "That's the way it should have begun, but It's hopeless" immer wieder und wieder und zwar auf jeweils verschiedene Ausdrucksweise gemäß der Spielanweisungen, die sie selbst annonciert.

In dem Kammertheater "refrain" (1971) wiederholt ein Schauspielerpaar: Mann und Frau den szenischen Kanon einer Begegnung und ersten Berührung. Bei jeder Wiederholung wird neues Sprachmaterial eingeführt, sodass die Bewegungen der Schauspieler, obschon immer die gleichen, durch den veränderten Sprachmodus neue Bedeutungen bekommen.

In meinem Theater "Die Reise von 1000 Meilen" (1979), einem abendfüllenden Stück für Schauspieler, muss Sprache gewissermaßen erst ersprungen werden, damit sie hörbar wird (über mehreren Trampolins sind Mikrophone in großer Höhe angebracht, die von den Stimmen der Schauspieler erreicht werden müssen). Oder es werden in diesem Stück verschiedene Texte gleichzeitig durch Schauspieler auf langen Schaukeln angeboten, die zum Publikum vor und weit zurück in den Bühnenraum pendeln. Auch gibt es darin einen 7-stimmigen Flüsterkanon bei vollkommen abgedunkelter Bühne, womit die Aufmerksamkeit aufs äußerste gespannt wird. Oder es gibt eine Textszene, die von Stroboskop-Licht-Rhythmen zusätzlich artikuliert wird, usw. Immer wieder also habe ich versucht, Sprache auf verschiedene Art, in mannigfacher Form zum Vorschein zu bringen. Oft habe ich nur einzelne Worte und Sätze, ein paar wenige Bewegungen und Klänge zum Gegenstand ganzer Stücke gemacht, um so - kraft meiner Phantasie - den ihnen innewohnenden Reichtum, alle ihre Qualitäten zu zeigen, zu entfalten.

Deswegen habe ich auch immer wieder in meine Klang- und Wahrnehmungsräume, Environments Sprache mit eingebracht, wie zum Beispiel in meiner größeren Klanglandschaft von 36 Lautsprecherobjekten "ON EARTH" (1978), zu deren vielfachen Klanggeschehen ich kommentierend Sprache als Möglichkeit von Selbsterfahrung einbezog.

Oder wie in einer wesentlich kleineren, früheren Arbeit, der "Ich" - Installation, mit der ich über Kopfhörer ein stimmlos artikuliertes Ich anbot, das nun im Raum, d.h. im Kopf umherwandert.

In meinen "Inschriften" (1970), einer Serie von 20 Bildern, durchwandern Farbnamen im gleichen Schreibrhythmus hundertfach das Chroma des Farbspektrums: Sprachschrift wird Bild.

In mehreren Klangräumen habe ich auch mehrsprachige Simultantexte über verschiedenen postierte Lautsprecher angeboten, die von der Wahrnehmung handelten und just die Situation wiedergaben, in denen sich der Zuschauer/Zuhörer befand.

Und unter meinen Kompositionen gibt es auch eine ganze Reihe von Werken, in die ich Sprache auf neue Weise - also sie nicht vertonend - mit hineinnahm, wie in "alpha:omega" (1960 und 1966), in "minimum:maximum" (1973), einer Simultankomposition für zwei Interpreten an zwei verschiedenen Orten, in "arbeit" (1974), einem Stück, in dem Aufnahme und Wiedergabeverfahren von Texten und Klängen zum Gegenstand der Aufführung gemacht sind; in "schrift" (1977), einer Komposition für vier zehnstimmige Chorgruppen ,in der das Sprachmaterial aus den Namen der jeweils Aufführenden selbst gewonnen wird.

In meiner Komposition "text" für einen Bläser (1973) werden Sprechen und Blasen zu einer einzigen Klangstruktur miteinander vereint, das Instrument so gewissermaßen zum "Sprachrohr" (zit. Eberhard Blum) gemacht.

In meinem "text" für einen Schlagzeuger (1985) schließlich mache ich einen weiteren Versuch, Sprache und Klang und die Interpretation selbst miteinander in Einklang zu bringen.

  


LUIGI NONO: … SOFFERTE ONDE SERENE …

Während sich meine Freundschaft mit Maurizio Pollini wie auch meine staunende Kenntnis seines Klavierspiels vertiefen, hat ein harter Todeswind das "unendliche Lächeln der Wellen" in meiner und Pollinis Familie hinweggefegt.

Diese gemeinsame Erfahrung hat uns in der Trauer des unendlichen Lächelns der "... durchlittenen heiteren Wellen … " einander noch näher gebracht. Die Widmung "Für Maurizio und Marilisa Pollini" meint auch das. In mein Heim auf der Giudecca in Venedig dringen fortwährend Klänge verschiedener Glocken, sie kommen mit unterschiedlichen Bedeutungen, Tag und Nacht, durch den Nebel und in der Sonne. Es sind Lebenszeichen über der Lagune, über dem Meer.

Aufforderungen zur Arbeit, zum Nachdenken, Warnungen. Und das Leben geht dabei weiter in der durchlittenen und heiteren Notwendigkeit des "Gleichgewichts im tiefen Inneren", wie Kafka sagt.

Klavier live erweitert sich mit Klavier auf Tonband, bearbeitet und komponiert. Weder kontra-stierend noch kontra-punktierend.

Daraus ergeben sich zwei Klangebenen, die oft verschmelzen und dabei die mechanische Fremdheit des Tonbandes aufheben. Zwischen ihnen beiden sind die Beziehungen in der Klangbildung untersucht worden; darunter auch die Verwendung des Vibrierens der Pedalschläge - vielleicht besondere Anklänge "im tiefen Inneren".

Es sind nicht "Episoden", die sich in der Abfolge erschöpfen, sondern "Erinnerungen" und "Gegenwärtigkeiten", die sich überlagern, die sich indes als Erinnerungen, als Gegenwarten mit den "heiteren Wellen" vermischen.

Luigi Nono

 


LUCIANO BERIO: Circles

Zu "Circles" für Frauenstimme, Harfe und zwei Schlagzeuger über einen Text von e.e. cummings schrieb Berio zur Uraufführung 1960 anlässlich des Berkshire Festival in Tanglewood:

Musik ist nie absolut vorhanden: sie ist Attitüde, sie ist Theater. Sie ist unteilbar von Gesten …
Die Aufgabe besteht darin, den Sinn der musikalischen Aktionen den spezifischen Kenntnissen und Möglichkeiten der Protagonisten anzupassen, ihnen die Chance zu geben, für sich selbst die Bedingungen zu definieren, durch die sie vor den Augen des Zuhörers und den Ohren des Zuschauers Möglichkeiten in Wirklichkeit umsetzen können. In "Circles" werden diese Möglichkeiten erweitert durch die Gegenwart von Worten (Nr. 25, 76 und 221 aus den "Collected Poems" von e.e. cummings: "
stinging gold swarms" … "riverly is a flower" … "n(o)w the how dis(appeared cleverly) world ... )". Die Gedichte Nr. 25 und 76 erscheinen zweimal, in verschiedenen Momenten der musikalischen Entwicklung. In "C'ir cles", einer Reihenfolge vokaler Fragmente mit instrumentaler Begleitung, ergänzen sich das Vokale der Gedichte und die Musik kongenial. Darin beruht die Geschlossenheit dieses Werkes. Die theatralischen Aspekte für eine Aufführung sind in der Struktur des Werkes enthalten, besonders im Aufbau der Handlung: man soll ihm zuhören wie einem Theaterstück und zusehen wie einer Musik.

 

e ,e, cummings: Complete Poems (1961)

(Harcourt Brace Jovanovich Inc. N.Y.C.)

 

stinging

gold swarms upon

the spires

silver

 

chants the litanies the

great bells are ringing with rose

the lewd fat bells

and a tall

 

wind

is dragging

the

sea

 

with

 

dream

 

-S

 

riverly is a flower

gone softly by tomb

rosily gods whiten

befall saith rain

 

anguish

of dream-send is

hushed

in

 

moan-loll where

night gathers

morte carved smiles

 

cloud-gloss is at moon-cease

soon

verbal mist-flowers close

ghosts on prowl gorge

 

sly slim gods stare

 

n(o)w

the

how

dis(appeared cleverly) world

i.S. Slapped: with; liGhtninG

!

 

at which(shal)lpounceupcrackw(ill)jumps

 

of

THuNdeRB

loSSo!MiN

 -visiblya mongban(gedfrag-

ment ssky? wha tm)eani ngl(essNessUn

rolli)ngl yS troll s(who leO v erd)oma insCol

 

Lide. !high

n,o;W:

theraIncomIng

 

o all the roofs roar

drownInsound(

&

(we(are like)dead

)Whoshout(Ghost)atOne(voiceless)O

ther or im)

pos

sib(ly as

leep)

But l!ook-

s

U

n:starT birDs(IEAp)Openi ng

t  hing; s(

-sing

lall are aLI(cry alL See)o(ver AII)Th(e grEEn

?eartH)N,ew


 


JOHN CAGE: Concert for Piano and Orchestra

Das "Concert für Piano and Orchestra" ist Elaine de Kooning gewidmet. Es besteht aus dem Material für den Pianisten und sechzehn weiteren instrumental- bzw. Vokalpartien. Außerdem gibt es eine Stimme für einen möglichen Dirigenten, der gestisch das Vergehen von Zeit darstellt.

Eine Partitur zu dem Werk existiert nicht. Die einzelnen Partien des Werkes können als Soli oder in jeder beliebigen Kombination ganz oder teilweise aufgeführt werden. Jedem Ausführenden sind spezifische Anweisungen und spezifische Freiheiten gegeben.

Die Klavierstimme besteht aus einer Mappe mit 63 Blättern, auf welchen sich die unterschiedlichsten Arten von Notationen und Anweisungen befinden. Daraus stellt der Pianist für eine Aufführung seinen Part zusammen. Es steht dem Spieler frei, die Materialien ganz oder teilweise und in jeder beliebigen Reihenfolge zu spielen. Ähnlich verhält es sich mit der Ausführung der anderen Stimmen.

Die Dauer der Aufführung wird von den Ausführenden festgelegt.

Die Aufführung des Werkes ist äußerst schwierig und erfordert von den Musikern ein hohes Maß an Disziplin und Verantwortung.

Es ist immer noch schwierig - nicht nur für Musiker -, gegebene Freiheit kollektiv und auf intelligente Weise zu nutzen.

1982 schrieb Wolfgang Sandner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum 70. Geburtstag von John Cage:

"Erst wenn ein Avantgardist öffentlich zurückblickt, wird bisweilen die Größe seines Vorsprungs evident: er betrachtet dann seine Vergangenheit, während dies für die Öffentlichkeit noch nicht einmal Gegen wart geworden ist."


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