INVENTIONEN'86                                                                                              Freitag, 28.2.1986
Konzert TU Berlin                                                                                               18:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße

Produktionen des Elektronischen Studios der Technischen Universität Berlin

Arbeitskreis für Elektronische Musik Der Astronaut (1964)
vierspuriges Tonband
Rüdiger Rüfer Glück, Lust, Torheit (1968)
vierspuriges Tonband
Kiyoshi Furukawa Mrs. M., her geometrization (1985) UA
vierspuriges Tonband
László Dubrovay Symphonia (1985) UA
vierspuriges Tonband

LASZLO DUBROVAY: Symphonia 1985

Es ist jetzt die Zeit gekommen, nach den vielen Klangversuchen, nach den vielen ausprobierten neuen Klangorganisationstechniken, mit Hilfe der immer reichere Möglichkeiten anbietenden Computer- und Synthesizer-Systeme die Komplexität des Lebens, den Reichtum unseres Denkvermögens und des zeitgenössischen Menschen in der Musik darzustellen.
Der Titel ist eine Huldigung an die großen Meister, die in dieser zyklischen Form so viel über uns haben aussagen können.
Ich versuche auch, mit der Wiederbelebung dieser Form - die Melodien unserer Zeit suchend, mit einer neuen Harmonik, mit neuen Klangmaterialien und metamorphosenartig sich wandelnder Instrumentation und Dramaturgie - über uns zu sprechen.
Der erste Teil hat eine Sonatenform. Jeder Ton ist vor der Realisation exakt komponiert worden. Im Laufe des Satzes sind solche Klangveränderungen, Klangmetamorphosen, in Polytempo sich bewegende Klangprozesse, Polyrhythmen, Sinnverschiebungen und Sinnveränderungen in der Textur vorgenommen worden, die mit dem Orchester oder Instrumenten nicht hätten realisiert werden können.
Der zweite Satz, "Parte con moto!", ist Helga Retzer gewidmet als Dank für ihr Engagement für uns DAAD-Komponisten; er wurde, kurz vor ihrem Tod, im Sommer 1984 im Elektronischen Studio der TU Berlin mit Folkmar Hein quadrofon fertiggestellt.
Es ist ein alter Traum der Komponisten, alle melodischen und harmonischen Bestandteile einer Komposition aus den Elementen einer die Mikrointervalle nutzenden harmonischen Obertonreihe gewinnen zu können. Mit dem zur Verfügung stehenden Computer kamen 576 Teiltöne eines harmonischen Reihensystems bezogen auf G zur Anwendung.
Der fünfteilige Satz ist durch seine thematisch-motivische Struktur, verbunden mit emotionaler Entfaltung, ganz im Geist europäischer Symphonik angesiedelt. "Parte con moto" ist ein Aufschrei und das kurze Drama der Hoffnung in der Resignation.
Der dritte Satz ist ein großes Accelerando. Die von unten aufsteigenden mechanischen Urkräfte, die alles vernichtend in sich hineinsaugen wollen, können für uns sehr gefährlich werden.

László Dubrovay


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INVENTIONEN'86                                                                                              Freitag, 28.2.1986
1. Akademie-Konzert                                                                                         20:00 Uhr
Akademie der Künste


1. Akademie-Konzert

Mauricio Kagel Prima Vista (1962/64)
für Diapositivbilder, eine unbestimmte Anzahl von Schallquellen und Tonbänder Version für sechs Ausführende
Luciano Berio Omaggio a Joyce (1959)
Elektronische Komposition
Vinko Globokar Toucher (1973)
für einen Schlagzeuger
***
Frank Michael Beyer Echo (1985) UA
für Bass flöte
Luis de Pablo reciproco (1963)
für Flöte, Schlagzeug und Klavier
Boris Blacher Ariadne (1969/71)
Duodram für zwei Sprecher und Elektronik nach einem Text von Friedrich Wilhelm Gotter

Eberhard Blum  (Flöten)
Martin Schulz  (Schlagzeug)
Marianne Schroeder  (Klavier)
Roland Pfrengle  (Elektronische Technik)

Ensemble für "Prima Vista":
Eberhard Blum, Martin Schulz, Gregory Riffel, Rumi Ogawa-Helferich, Marianne Schroeder, Roland Pfrengle


MAURICIO KAGEL: Prima Vista

In "Prima Vista" wird die von den Musikern auszuführende Partitur für alle sichtbar auf Leinwände projiziert. Die Ausführung der graphischen Anweisungen, die nicht vor einer Aufführung geprobt werden kann, erfordert geistesgegenwärtige Reaktion und unmittelbare Realisation. Die Möglichkeit des Misslingens ist eingeschlossen und von Kagel als Teil der Expressivität vorgesehen.
So wie in "Prima Vista" Diapositive zum Erzeugen von Musik dienen, sollen in seinem Lesestück "Composition und Decomposition" (1963/64) Sätze zum Denken über Musik anregen.
Daraus einige Beispiele:

LUCIANO BERIO: Omaggio a Joyce

Die Komposition "Omaggio a Joyce" entstand 1959 mit Mitteln elektronischer Materialverarbeitung im Studio di Fonologia Musicale in Mailand.
Als Sprachmaterial diente die Einleitung zum XI. Kapitel des "Ulysses" von James Joyce.
Es geht Berio um die Entfaltung und klangliche Transformierung des sprachlichen Materials. Es werden verschiedene Übersetzungen des Textes benutzt und deren Vokalfarben übereinander geschichtet, Die im poetischen Text bereits enthaltenen musikalischen Aspekte werden auskomponiert und zu einer universalen gestischen Sprache geformt.

James Joyce: Ulysses
                       Einleitung zum XI. Kapitel (Originalfassung)

Bronze by gold heard the hoofirons, steelyringing Imperthnthn thnthnthn.
Chips, picking chips off rocky thumbnail, chips.
Horrid! And gold 'flushed more.
A husky fifenote blew.
Blew. Blue bloom is on the
Gold pinnacled hair.
A jumping rose on satiny breasts of satin, rose of Castille.
Trilling, trilling: Idolores.
Peep! Who's in the … peepofgold?
Tink cried to bronze in pity.
And a call, pure, long and throbbing. Longindying call.
Decoy. Soft word. But look! The bright stars fade. O rose! Notes chirruping answer. Castille. The morn is breaking.
Jingle jingle jaunsted jingling.
Coin rang. Clock clacked.
Avowal. Sonnez. I could. Rebound of garter. Not leave thee. Smack.
La cloche! Thigh smack. Avowel. Warm. Sweetheart, goodbye!

Jingle. Bloo.
Boomed crashing chords. When love absorbs. War! War! The tympanum.
A sail! A veil awave upon the waves.
Lost. Throstle fluted. All is lost now. Horn. Hawhorn.
When first he saw. Alas!
Full tup. Full throb.
Warbling. Ah, lure! Alluring.
Martha! Come!
Clapclop. Clipclap. Clappyclap.
Goodgod henev erheard inall.
Deaf bald Pat brought pad knife took up.
A moonlight nightcall: far: far.
I feel so sad. P.S. So lonely blooming.
Listen!
The spiked and winding cold seahorn. Have you the? Each and for other plash and silent roar.
Pearls: when she. Liszt's rhapsodies. Hissss.
You don't?
Did not: no, no: believe: Lidlyd. With a cock with a carra.
Black.
Deepsounding. Do, Ben, do.
Wait while you wait. Hee hee. Wait while you hee.
But wait!
Low in dark middle earth. Embedded ore.
Naminedamine. All gone. All fallen.
Tiny, her tremulous fernfoils of maidenhair.
Amen! He gnashed in fury.
Fro. To, fro. A baton cool protruding.
Bronzelydia by Minagold.
By bronze, by gold, in oceangreen of shadow. Bloom. Old Bloom.
One rapped, one tapped with a carra, with a cock.
Pray for him! Pray, good people!
His gouty fingers nakkering.
Big Benaben. Big Benben.
Last rose Castille of summer left bloom I feel so sad alone.
Pwee! Little wind piped wee.

True men. Lid Ker Cow De and Doll. Ay, .ay. Like you men. Will lift your tschink with tschunk.
Fff! Oo!
Where bronze from anear? Where gold from afar? Where hoofs?
Rrrpr. Kraa. Kraandl.
Then, not till then. My eppripfftaph. Be pfrwritt.
Done.

 

James Joyce: Ulysses
                       Einleitung zum XI. Kapitel (Deutsche Fassung; dtv 1966)

BRONZE neben Gold hörten die Hufeisen, stahlklingend.
Imperthnthn thnthnthn.
Splitter, riss Splitter von felshartem Daumennagel, Splitter.
Grässliche! Und Gold errötete mehr.
Ein heiserer Flötenton blies.
Blies. Blaue Blume steht im .…
Goldenes, hochgetürmtes Haar.
Eine springende Rose auf atlassenen Atlasbrüsten, Rose von Castilien.
Trillert, trillert: Idolores.
Sieh! Wer ist in dem … Goldblick?
Gellend schrie zu Bronze in Mitleid.
Und ein Klang, rein, lang und bebend. Langsam-ersterbender Klang.
Locken. Sanftes Wort. Sehen Sie doch mal! Die hellen Sterne verblassen. O Rose! Töne zwitschern Antwort. Castilien. Der Morgen bricht an.
Klingen, klingen, rüttelte klingend.
Münze klang. Uhr ratterte.
Geständnis. Sonnez. Ich könnte. Strumpfband klatscht. Nie dich verlassen. Klatsch. La cloche! Schenkel. Klatsch. Geständnis.
Warm. Geliebter, lebe wohl!
Klingen. Bloo .…
Überbrüllte donnernde Akkorde. Wenn Lieb erfasst. Krieg!
Krieg! Das Trommelfell.
Ein Segel! Ein Schleier weht auf die Wogen. Verloren. Drossel fliege. Alles jetzt ist verloren.
Steifen. Stistasteifen.
Als sein Blick zum erstenmal. Ach!
Auf ihr liegen. Wildes Klopfen.
Trillern. Ah, locken! Anlocken.
Martha. Komm.
Klatschen! Klitschklatsch. Klatschklatsch!
Liebergott, nieer hörte in seinem ganzen.
Tauber kahler Patt brachte Unterlage nahm Messer fort.
Ein mondheller Nachtruf: weit: weit.
Ich bin so traurig. P.S. So einsame Blume.
Horch!
Das spitze gewundene, kühle Seehorn. Hast du? Jede für sich und jede für die andere Platschen und stilles Brüllen.
Perlen: Wenn sie. Liszts Rhapsodien. Zischen.
Du nicht?
Nein: nein, nein: glauben. Lidlyd. Mit einem Rappelpock.
Schwarz.
Tiefklingend. Los, Ben, los.
Warte, wenn du wartest. Hi, hi. Warte, wenn du, hi. Aber warte!
Tief in dunkler Mitte Erde. Eingebettetes Erz. Naminedamine.
Alle fort. Alle gefallen.
Klein, ihre zitternden Mädchenhaarfarnblätter.
Amen. Er knirschte vor Wut.
Hin. Hin und her. Ein Stab. Kühles Durchdringen.
Bronzelydia neben Minagold.
Neben Bronze, neben Gold, in meergrünem Schatten. Bloom.
Alter Bloom.
Jemand rappelte, jemand klopfte mit einem Pock, Rappelpock.
Betet für ihn! Betet, liebe Leute!
Seine gichtigen Finger klapperten.
Big Benaben. Big, Benben.
Letzte Rose Castilien des Sommers verlassener Bloom ich fühle mich so traurig allein.
Piii. Leichter Wind piepte iii.
Echte Kerls. Lid Ker Cow De und Doll. Ah! Ah!
Wie ihr. Heben ihr Glas. Kling Klang.
Fff! Oo!
Wo Bronze von nahem? Wo Gold von fern? Wo Hufe?
Rrrrpr. Kraa. Kraandl.
Dann, erst dann. Mein Eppiphstaph. Gepfschrieb werden.
Fertig.
Nun los!


VINKO GLOBOKAR: Toucher für einen Schlagzeuger (1973)

Der Vortrag eines Theaterstücks durch einen einzigen Darsteller. Die Vokale der Sprache sollen durch selbstgefundene Schlaginstrumente nachgeahmt werden. Ich wählte für:

i : Kleiner Holzblock (mit Metallfingerhut)
j : Keramik-Vase (mit Daumenknöchel)
a : Indische Tabla (Handfläche)
o (kurz) : Tempelblock, Korea (mit Daumenknöchel)
ã (nasal) : Kuchenform (mit Fingerkuppe)
õ (nasal) : Bongo (mit Fingerkuppe)
e (kurz) : Teedose (mit Fingernagel)
ö : Glasvase (Fingerkuppe)
o (lang) : Indische Tabla (Fingerkuppe)
u : Buch (Ortega y Gasset)
ä : Kleines Orff-Becken (Zentrum, mit Fingerhut)
e (lang) : Cymbale antique (mit Fingerhut)
ẽ (nasal) : Kleines Orff-Becken (Außenrand, mit Fingerhut)

 

Der Text ist die französische Übersetzung einiger Szenen aus Bertolt Brechts "Leben des Galilei". Zeit der Handlung 1610 bis 1616.
1. Szene
Galilei und sein Freund Sagredo unterhalten sich darüber, dass es "keinen Unterschied zwischen Himmel und Erde" gibt. Vor nicht einmal 10 Jahren ist Giordano Bruno deswegen verbrannt worden.
2. Szene
Am Hofe von Cosimo de Medici, Großherzog von Florenz, werden Galilei und sein schönes Fernrohr verarscht.
Zwischenspiel
3. Szene
Offene Straße, die Pest ist ausgebrochen, Galilei sucht nach seiner Haushälterin, die von Soldaten abgeholt worden ist. Andere Soldaten treiben Galilei ins Haus und verriegeln die Tür. Dann sperren sie die Straße ab, dass weder Kranke noch Gesunde herein- oder heraus können.
Zwischenspiel
4. Szene
Sagredo fragt Galilei, wo nach all dem Gott geblieben ist. "In uns oder nirgends", antwortet Galilei. Wegen dieser Antwort hatte man Giordano Bruno verbrannt.

Martin Schulz


FRANK MICHEAL BEYER: Echo für Bassflöte

"Echo bitt' ich für die ganze Welt,
daß Gott auch ihn in Armen hält".

"Echo" deutet auf einen doppelten Sinn. Die barocke Musik kennt die Bezeichnung als Idee einer Komposition, die Echo-Wirkungen in die konzertierenden Elemente einfließen lässt.
Das obige Motto aus dem "Dr. Faustus" von Thomas Mann erinnert an das Kind Nepomuk, das sich selbst "Echo" nannte und dessen Abendgebet Adrian Leverkühn zart deutet: "Sollte der Fromme eigentlich wissen, dass er sich selber dient, indem er für andere bittet?"
So enthält auch die Komposition Rätsel und Fragen, denn das Instrument Bass-Flöte kann das Besondere aussagen.
Vier Sätze bilden die musikalische Gestalt: der erste, nur aus 4 Tönen gewoben - von Echo beantwortet, der zweite, das Instrument in allen seinen Klangmöglichkeiten entfaltend. Eine Fuga agitato folgt, gleichsam eine Komposition für zwei Flöten ganz verschiedenen Charakters: Bass-Flöte und das leise antwortende Natur-Instrument, dessen Töne unsere Skala nur tangieren. Den Schluss bildet die ruhige 'Cadenza' wieder die 4 Töne des ersten Satzes realisierend, eine Musik, die schwebt und offenlässt und in ihrer Einfachheit darauf zielt, das Motto des Werkes zum Klang werden zu lassen.


LUIS DE PABLO: reciproco

"reciproco" entstand 1963 im Auftrag von Severino Gazzelloni und wurde im gleichen Jahr im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt. Luis de Pablo schrieb mir kürzlich, dass er zu jener Zeit besonders mit Problemen der musikalischen Form und Fragen eines freieren Zusammenspiels der Musiker beschäftigt war.
Diese Arbeit führte ihn 1964-67 zu einer Serie von Kompositionen, die er "Modulos" nannte.
Neben formalen Überlegungen sollten diese Werke besonders eine spielerische und virtuose Leichtigkeit haben.


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