INVENTIONEN'85   

Beitrag Martin Supper


MARTIN SUPPER: ELEKTRONISCHE MUSIK IN HOLLAND

Beschäftigen wir uns mit der Geschichte der Elektronischen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, so stoßen wir schnell auf das Jahr 1952, auf Köln, auf die Namen Robert Beyer, Herbert Eimert, Fritz Enkel und Werner Meyer-Eppler, auf den Nordwestdeutschen Rundfunk (später Westdeutscher Rundfunk), wo das erste Studio für Elektronische Musik entstand. Normalerweise werden wir nur wenig darüber erfahren, wie sich die Elektronische Musik in Holland entwickelt hat. Der folgende kurze Abriss möchte zeigen, wie die Entwicklung in Holland war.

Walter Maas, der unermüdliche Verfechter der zeitgenössischen holländischen Musik und Gründer der Stiftung Gaudeamus, gab die ersten Impulse zu einer eigenständigen holländischen Elektronischen Musik. 1954 lud er Werner Meyer-Eppler zu mehreren Vorträgen nach Holland ein. Meyer-Eppler, Professor für Informationstheorie in Bonn, hatte durch sein 1949 erschienenes Buch "Elektrische Klangerzeugung" bereits Einfluss auf die Gründung des ersten Studios in Köln.

Eines der ersten Resultate von Meyer-Epplers Vorträgen in Holland war, dass unter seiner Leitung 1954 und 1955 das erste Studio für Elektronische Musik in Holland aufgebaut wurde, signifikanterweise wie in Deutschland in einem Rundfunkhaus, der Nederlandse Radio Unie (Rundfunk-Union) in Hilversum kurz NRU - in der verschiedene holländische Programmgesellschaften wie AVRO, N.C.R.V., VARA zusammengeschlossen sind.

Die Komponisten Hans Kox, Peter Schat, Elbert Vermaak und andere arbeiteten dort. Die ersten Kompositionen von Bedeutung waren "Orestes " (1954) von Henk Badings und "Hiob" (1956) von Ton de Leeuw. Beide Kompositionen bekamen den Premio Italia. 1957 entstand im NRU-Studio die erste seriell organisierte Komposition, "Study" von de Leeuw.

Ton de Leeuw war es auch, der durch eine Reihe von Vorlesungen (1953-54) die musique concrète in Holland einführte. Die holländische Richtung der musique concrète erreichte jedoch keine größere Bedeutung. Dies ist umso bedauerlicher unter dem Gesichtspunkt, dass die Klangmanipulation mit den Ideen der Künstlergruppe "De Stijl" verglichen wurde.

Bereits 1955 entschied sich die NRU, ihr bescheidenes Studio nicht weiter auszubauen. Wenige Monate nach dieser Entscheidung stellte die Firma Philips Gloeilampenfabrieken verschiedene Apparaturen ihres Versuchslaboratoriums in Eindhoven für den Komponisten Henk Badings zur Verfügung. Als erstes Werk entstand dort die Ballettmusik "Kain und Abel" für das Holland Festival 1956. 1957 übernahm das Ballett des Hannoverschen Landestheaters die erste deutsche Aufführung. In einer Zeitungskritik war zu lesen: "Die Musik des holländischen Komponisten Henk Badings in dem mit Spannung erwarteten "Elektronischen Ballett" ist keineswegs chaotisch oder schockierend, wie wohl viele Besucher erwarteten. Badings reguliert die Klangfarbenkontrapunkte als ein Musiker, der auch mit der Technik noch weitgehend traditionell empfindet, so ungewohnt sich auch vieles anhören mag. Sein elektronisch-musikalisches Werk ist von einem Klangsinn gesteuert, der bis zum französischen Impressionismus etwa Debussys zurückgeht". Weitere Kompositionen wurden von Badings im Philips-Studio realisiert. Das eigentlich nur für kurze Zeit zusammengestellte Studio kam schnell zu großer Bedeutung. Schon bald arbeiteten auch Ton de Leeuw, Tom Dissevelt, Rudolf Escher und Dick Raaijmakers dort. Die wichtigsten holländischen Kompositionen waren in dieser Zeit "Pianoforte" (1959) von Raaijmakers und "Antiphonie" (1960) von de Leeuw. Raaijmakers war ursprünglich Assistent im Philips Physiklabor und daher in der Lage, anderen Komponisten zu assistieren. Er wurde später Leiter des Studios am Konservatorium Den Haag.

Philips hatte zweifelsohne kommerzielle Interessen mit der Einrichtung dieses Studios. Die vom Versuchslaboratorium herausgegebene Schallplatte "Elektronische Unterhaltungsmusik" zeugt davon. Auf ihr ist u.a. der "Colonel Bogey" - Marsch aus dem Film "Die Brücke am Kwai" zu finden.

1958 wurde Edgar Varèse ins Philips-Studio eingeladen. Er sollte für den von Le Corbusier entworfenen Philips-Pavillon zur Brüsseler Weltausstellung die Musik realisieren. Varèse arbeitete an der 8 Minuten langen Komposition 9 Monate ununterbrochen im Studio. Die Klangmaterialien dieses Werkes, "Poème électronique", waren u.a. verfremdete Glocken, Maschinengeräusche, Chöre und Klavierakkorde. Die Aufführung wurde mit Hilfe von 425 im Pavillon verteilten Lautsprechern vorgenommen.

Bereits 1957 wurde die erste Organisation gegründet, um die Elektronische Musik in Holland zu repräsentieren und zu verbreiten, das Contactorgaan Elektronische Muziek, CEM. Im selben Jahr baute sich das CEM ein eigenes Studio an der Technischen Universität Delft auf. Durch die Eingliederung in den Universitätsbetrieb war auch der notwendige Unterricht gewährleistet. Die wichtigsten Kompositionen, die dort entstanden, waren von Jan Boerman, Jaap Spek, Rudolf Escher und Peter Schat.

1960 beschloss das CEM, die Studios von Philips und Delft zu vereinen und an der Reichsuniversität Utrecht zu installieren. Utrecht war nun das erste große Universitäts-Studio. Dort sollten auch die bisher verteilten Funktionen – Forschung, Unterricht und Produktion – vereint werden. Auch sollte es die Universität ermöglichen, Verbindungen zu anderen Kunstgattungen, zur Musikwissenschaft, zur Linguistik, zur Elektronik usw. aufzunehmen. Von 1961 bis 1965 hatte das Studio eine sogenannte 'erste konservative' Periode, also die Funktion eines reinen Analogstudios wie in Köln. Henk Badings war der Betreuer während dieser Zeit. Ab 1964 wurde Gottfried Michael Koenig die künstlerische Leitung des Studios übertragen. Koenig hatte bereits seit 1963 Kompositionsunterricht in einem kleineren, 1961 von CEM in Bilthoven eingerichteten Unterrichtsstudio gegeben. Unter seiner Leitung begann in Utrecht nicht nur die zweite Periode, nämlich die eines Computerstudios (ab 1966); das Studio wurde auch in ein eigenes Universitäts-Institut, das Instituut voor Sonologie, umgewandelt.

Utrecht wurde nun sehr schnell auch im Ausland berühmt und zog zahlreiche Komponisten an. Hier nur eine geringe Auswahl der Komponisten, die in Utrecht arbeiteten: Henk Badings, Tom Dissevelt, Jan Boerman, Hans Kox, Will Eisma, Peter Schat u.a. in der Anfangsperiode. Später kamen Konrad Boehmer, Makoto Shinohara, Mauricio Kagel, Ton Bruynel, Jos Kunst, Frits Weiland, Jan Vriend, Will Bottje, Luctor Ponse, Tera de Marez Oyens, Chistóbal Halffter, José Luis de Delás, Simeon ten Holt, Milan Stibilj, Rainer Rien, Roland Kayn, Erhard Grosskopf, Roland Pfrengle, Barry Truax, Paul Berg, Clarenz Barlow, Michael Fahres, Floris van Manen, Milko Kelemen, Werner Kaegi, Otto Laske u.a. Die in Utrecht realisierte Komposition "YO-IN" von Jean-Claude Eloy ist übrigens auf den Inventionen '85 zu hören. Bildende Künstler, wie Karel Appel und Peter Struycken, arbeiteten ebenfalls im Utrechter Institut.

Eine große Rolle spielten auch die zahlreich entstehenden privaten Studios. Pionier war hier zweifelsohne Ton Bruynel, der 1957 das erste private Studio aufbaute. Privatstudios und Universitätsstudios beeinflussten sich wechselseitig. Die Privatstudios von Bruynel, Jan Boerman und Dick Raaijmakers wurden Modell für das 1966 in Den Haag gegründete erste Studio an einem Konservatorium. Dort entstanden sehr bald schon Kompositionen von Louis Andriessen, Gilius van Bergelijk, Frans van Doorn, Peter Smith und Tony van Campen.

Dem Beispiel Den Haag folgend, begannen andere Konservatorien Elektronische Studios einzurichten. 1968 die Musikschule in Terneuzen (Leitung C.A. van Prooyen), wo auch Live-Elektronik, Video und Computeranwendungen unterrichtet wurden. 1969 das Konservatorium Groningen (Leitung Luctor Ponse). 1972 das Konservatorium Brabant, das Konservatorium Tilburg (Leitung Victor Wenting, ab 1977 Tony van Campen). 1973 das Konservatorium Utrecht (Leitung Jaap Vink, später Ton Bruynel). 1976 das Sweelink Konservatorium Amsterdam (Leitung Ton de Leeuw), 1978 die Musikschule Hilversum (Leitung Michael Fahres) u.a.

Das Jahr 1966 gilt als Einschnitt in der Geschichte der Elektronischen Musik in Holland. Bis zu diesem Jahr wurde in der Regel pure Elektronische Musik in den Studios produziert. Besonders das Utrechter Institut galt als ebenso dogmatisch wie die "Kölner Schule".

1966 wurde mehr und mehr Kontakt zu anderen Disziplinen aufgenommen. Minimal art, happenings, events, fluxus performances etc. beeinflussten die Elektronische Musik und umgekehrt. "Reporting art", bekannt geworden durch Luc Ferraris "Presque Rien No. I" (1970), wurde vielfach im Amsterdamer Studio STEIM praktiziert. Louis Andriessens "II Duce" entstand dort.

Organisationen wie das Holland-Festival, Gaudeamus und de Ijsbreker haben dazu beigetragen, dass die Elektronische Musik in Holland einen sehr hohen Stellenwert hat. Dazu kommt die Zusammenarbeit mit Schallplattenfirmen und Rundfunkstationen.

Literatur:

Weiland, F.C. en Tempelaars, C.A.G.M.
ELEKTRONISCHE MUZIEK;
Scheltema & Holkema B.V., Utrecht 1982

Leeuw, T.
MUZIEK VAN DE TWINTIGSTE EEUW
Bohn, Scheltema & Holkema B.V., Utrecht 1977

Schat, P.
DE TOONKLOK, Essays en gespreken over Muziek
Meulenhoff Nederland B.V., Amsterdam 1984

Periodika:

Institute of Sonology - Utrecht State University
ELECTRONIC MUSIC REPORTS
Swets & Zeitlinger B.V., Amsterdam/Lisse

Institute of Sonology - Utrecht State University
SONOLOGICAL REPORTS
Institute of Sonology, Utrecht

Seminar of Musicology of Ghent State University
Institute of Sonology - Utrecht State University
INTERFACE, Journal of New Music Research
Swets & Zeitlinger B.Y., Amsterdam/Lisse

GAUDEAMUS INFORMATION
Gaudeamus Foundation, Centre of Contemporary Music Amsterdam

KEY NOTES, Musical Life in The Netherlands
Donemus, Amsterdam

MUZIEK & DANS
Stichting Kunstpublikaties, Amsterdam

Schallplatten:

Anthology of Dutch Electronic Tape Music
Vol. 1 (1955-66), CV 7803
Vol. 2 (1966-77), CV 7903
Donemus, Amsterdam


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