INVENTIONEN'85                                                                                              Montag, 4.2.1985
8. Konzert: Warsaw Percussion Group                                                              20:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


IANNIS XENAKIS: PLEIADES

"Pléiades" wurde 1978 im Auftrag der Opéra du Rhin Strasbourg für die Percussions de Strasbourg geschrieben und dort im Rahmen eines Ballettabends uraufgeführt.
Das Titelwort - es bedeutet "viele, mehrere" - habe ich gewählt, weil das Werk für 6 Ausführende bestimmt ist und aus 4 Sätzen besteht.
Die 4 Sätze haben in Übereinstimmung mit den jeweils verwendeten Instrumenten folgende Überschriften:
Mélanges     (Mischungen)
Métaux          (Metallinstrumente)
Claviers         (Klangplatten)
Peaux                        (Fellinstrumente)
Vorrang hat hier der Rhythmus, d.h. die zeitliche Anordnung von Ereignissen, die Kombinatorik von Dauern, Lautstärken, Klangfarben. Einzige Quelle dieser Polyrhythmik ist die Idee der Periodizität, der Repetition, der Verdopplung, der Wiederkehr, der Kopie, und zwar nach den Gesichtspunkten: Treue, Scheintreue, Untreue.
Ich will ein Beispiel geben: Ein unablässig auf die gleiche Weise wiederholter Schlag ist die getreue Kopie eines rhythmischen Atoms (aber ein antikes Metrum ist bereits ein sich wiederholendes rhythmisches Molekül). Nun bringen kleine Veränderungen in der Anschlagsart eine innere Belebung des Rhythmus mit sich, ohne die Grund-Periodizität darum aufzuheben. Größere und kompliziertere Veränderungen schaffen eine Entstellung, eine Negation der Grund-Periodizität, die bis zur Unkenntlichkeit gehen kann. Noch stärkere, noch kompliziertere Variationen oder - was auf das gleiche hinauslaufen kann - Veränderungen, die durch den Zufall einer besonderen, auf Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhenden Anordnung entstehen,
führen zur totalen Arhythmik, zu einer "mengenmäßigen" Wahrnehmung der Klangereignisse, zu Vorstellungen von rhythmisch organisierten Nebelwolken oder Galaxien von Staubwolken aus Schlägen. Überdies schafft die Geschwindigkeit dieser Transformationen neue Ableitungen, die sich mit den vorhergehenden überlagern und in ständig zunehmender Geschwindigkeit einen Wirbel hervorrufen, der den Hörer wie in eine unausweichliche Katastrophe oder in eine aus den Fugen geratene Welt hineinzieht.
In "Pléiades" wird diese Grundidee von der Wiederkehr eines Ereignisses auch in einer anderen Dimension der Musik aufgegriffen: im Tonhöhenbereich. In dieser Dimension ist die europäische, die abendländische Musik seit der griechischen Antike unbeweglich geblieben. Das System der diatonischen Skala regiert noch immer, auch und sogar in jener Musik – zum Beispiel der seriellen –, deren Basis die chromatische Totale ist, aus welcher die Wahl der Einzeltöne hervorgeht. Übrigens würde eine Skala, deren Einheit das Komma, also der kleinstmögliche Tonschritt wäre, an dem "Klima", an den Kraftfeldern melodischer Linien, durchaus nichts ändern. Deshalb habe ich hier einen doppelten Versuch unternommen.
Sein erster Teil bestand – wie auch in meinem Orchesterwerk "Jonchaies" – darin, eine nicht-abendländische Skala aufzustellen, die hinlänglich kraftvoll und charakteristisch sein, aber von diatonischen Instrumenten wie dem Marimbaphon, dem Xylophon, dem Vibraphon sollte gespielt werden können.
Der zweite war, ein neues Metallinstrument bauen zu lassen – ich nenne es "SIXEN" –, das 19 unregelmäßig angeordnete Tonhöhen aus Viertel- und Dritteltönen und deren Vielfachen umfasst. Außerdem durften die 6 Instrumente der Straßburger Schlagzeuger zusammengenommen niemals Unisoni ergeben.
Im ersten Fall konstruierte ich nach vielen Versuchen eine Skala, die überraschenderweise den Tonleitern der griechischen Antike, des Nahen Ostens und Indonesiens nahesteht. Doch wiederholt sich diese Skala im Gegensatz zu den hergebrachten nicht nach einer Oktave, besitzt innere Symmetrien und umfasst nach drei aufeinanderfolgenden Perioden die chromatische Totale.
Iannis Xenakis


ALLAIN GAUSSIN: COLOSSEO

Während meines Aufenthaltes in der Villa Medici (1977-79) in Rom habe ich "Colosseo" komponiert. Das Kolosseum hat mich durch seine außergewöhnlichen Maße, seine elliptische Form und seinen relativ guten Bauzustand nach 19 Jahrhunderten stark beeindruckt.
Um die Vorstellung der Schlachten und Kämpfe, die dort stattfanden, zu vermitteln, war die Benutzung von Schlagzeug unumgänglich. Es handelt sich aber weder um Programm-Musik noch um beschreibende Musik; es ist höchstens eine metaphorische musikalische Heraufbeschwörung.
Was die Behandlung der Instrumente betrifft, so hatte ich vor, klare und reine Klänge zu erzielen, und so arbeite ich im wesentlichen mit Klanggruppen.
Dieses Werk wurde in einem Zug geschrieben; seine 5 Teile gehen - mit Ausnahme des zweiten und dritten Teils - ineinander über.
1. Veränderliche metallische Masse
In diesem Teil spielt die Idee des Kolosseums eine starke Rolle
- einziges Material: Metall - Tam-Tam, Gong, Becken
- gekrümmt geschwungene Schreibweise - elliptische Form des Kolosseums
- Intensität der Nuancen - Spiel des Blutes, Hölle auf Erden
2. Kontrapunkt der Klangplatten
Nebeneinander von drei unterschiedlichen Formen der Musik
- expandierende Harmonie mit 3 Vibraphonen
- Kontrapunkt der Xylorimba und Marimba
- lange Phrasen mit tibetanischen Crotales
3. Brüche
Felle, Pizzicato der Becken
4. Heraufläuten ferner Glocken
5. Ritual
Rhythmische Schauder und Überfülle, komponiert aus wiederholten kurzen Teilen (Hölzer, Metalle) auf dem Hintergrund von veränderlichen Trommelwirbeln.
Allain Gaussin



JOLYON BRETTINGHAM-SMITH: DOORS OF PERCEPTION

"Doors of Perception" entstand 1982 auf besondere Bitte des Ensembles des Philharmonischen Orchesters der Stadt Essen, dem das Stück auch gewidmet ist.
Der Titel bezieht sich auf einen Aphorismus des berühmten englischen visionären Dichters und Malers William Blake (1757-1827) : "If the doors of perception were cleansed, everything would appear as it is, infinite". (Könnten wir nur die Türen der Wahrnehmung wirklich reinigen, so würden wir dann alles sehen, wie es wirklich ist: grenzenlos.)
Meistens werden diese "Türen der Wahrnehmung" mit den Augen identifiziert, aber der Spruch Blakes lässt sich natürlich auf alle Sinnesorgane anwenden: mir als Komponisten sind die Ohren z.B. auch ganz wichtig. Und gerade heute haben wir eine gewisse Reinigung unserer Hörkanäle nötig, heute, wo es kaum noch möglich ist, einen Supermarkt oder ein Kaufhaus, eine Kneipe oder ein Restaurant, ein Kino oder ein Verkehrsflugzeug zu betreten, ohne dass die Luft durch irgendwelche berieselnde, nichtssagende Klänge verpestet wird. Aber nicht nur diese teils subtil hinterhältige, teils grobe und fahrlässige Verschmutzung unserer akustischen Umwelt stellt eine Gefahr für unsere "Türen der Wahrnehmung" dar: auch das große, stets noch steigende Geschäft mit der klassischen Musik unserer Vergangenheit droht unsere musikalischen Erwartungen und unser musikalisches Verständnis in eine ganz bestimmte Richtung zu zwingen - eine Richtung, die zwar großartig, schön und wertvoll, aber halt nur eine Richtung ist. Ich will unsere Tradition keineswegs abwerten; ganz im Gegenteil, aber ich möchte doch immer darauf hinweisen, dass sie nicht grenzenlos ist. Links und rechts von der konsequenten mitteleuropäischen Entwicklungslinie liegen ganz unerforschte neue Welten. Diese niemals kennenzulernen - vielleicht nicht einmal flüchtig erblickt zu haben - musste eigentlich für jeden ein kleiner Verlust sein.
Beim Komponieren allerdings stelle ich immer wieder mit Überraschung (und vielleicht sogar mit einem bisschen Misstrauen) fest, dass bestimmte musikalische Strukturen in unserem Unterbewusstsein so tiefliegend eingebettet sind, dass man sie fast archetypisch nennen muss: die musikalischen Prozesse bei z.B. "Doors of Perception" kristallisieren sich scheinbar von allein in Form einer kleinen Symphonie. Das Stück beginnt mit einem energischen "dialektischen" schnellen Teil, der allmählich und fließend in einen lyrischen, harmonischen langsamen Satz übergeht; ein skurriler scherzohafter Teil folgt, und der ganze musikalische Strom mündet in den Versuch einer Synthese – in einen letzten Höhepunkt, der durch die kleine anschließende Koda leise infrage gestellt wird.
Im Gegensatz zur traditionellen europäischen Vorstellung vom musikalischen Ton mit ihrer strengen hierarchischen Einteilung von möglichen und nicht möglichen Klängen zehre ich hier wieder einmal von der Welt der asiatischen Musik, die ich während meiner fruchtbaren Studienjahre bei Isang Yun gründlich kennenlernen konnte.
Die 4 Schlagzeuger fungieren keineswegs als Begleitung für die Soloflöte ; alle Instrumente sind prinzipiell gleichberechtigt, und jedes trägt auf seine Art wesentliche formbildende musikalische Elemente zum Gesamtgeschehen bei; auch solche Instrumente ohne genaue Tonhöhen wie die Holzblöcke, Claves und die verschiedenen Trommeln und Becken werden nie zur bloßen effektvollen Unterstützung irgendwelcher Steigerungen oder als exotisches Kolorit eingesetzt: vielmehr soll das Spektrum unserer denkbaren musikalischen Möglichkeiten erweitert werden, bis es sich von dem rein rhythmischen (der einfache trockene Schlag der Claves) zum rein harmonischen (der gefärbte Atemstrom des Flötisten) erstreckt und alles, was dazwischen- und dazugehört, mit einschließt.
Nicht gerade "grenzenlos", vielleicht aber ab und zu ein anregendes, und ich hoffe echt sinnliches Hörabenteuer. Könnten wir die Türen der Wahrnehmung wirklich reinigen ...
Jolyon Brettingham-Smith



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