INVENTIONEN'85                                                                                             
3. Konzert: Eloy Yo-In                                                                                       Freitag 1.2.1985 / 20:00 Uhr
4. Konzert: Eloy Yo-In                                                                                       Samstag, 2.2.1985 / 20:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


JEAN-CLAUDE ELOY: YO-IN

"Yo-In" ist ein japanisches Wort, das "Widerhall, Klang, Harmonie" bedeutet. Das ist der einfachste Sinn. Zum Beispiel meint "Yo-In" den Klang einer Glocke. Oder auch (wie im Falle der Komposition) den Klang eines (Perkussions-) Instruments, insbesondere den eines Metallinstruments. Aber der Sinn dieses Wortes erweitert sich, wenn sich der Begriff von "Erinnerung, Vergangenheit" damit verbindet. Dabei handelt es sich um ein früher Erlebtes, das mit dem gegenwärtigen Erlebnis einen harmonischen Widerhall erzeugt.
In dem Buch "A hundred things Japanese" erläutert Walt J. Kleinedler : "Für den Japaner, der einigermaßen gebildet ist, ist das Wort Yo-In sehr bezeichnend. Buchstäblich bedeutet das Wort soviel wie 'Schwingung, Widerhall' ... Im übertragenen Sinne meint das Wort, dass ein Erlebtes die Phantasie anregt und im Geist einen Impuls (eine Gedankenverbindung) erzeugt, die positiver Art ist ... Man sagt von einer Situation, dass sie Yo-In enthalte, wenn sie einen gewissen Grad von transzendentem Erleben ermöglicht."
Die ersten Skizzen zu "Yo-In" entstanden im Sommer 1979 während eines Aufenthaltes in Tokio. Ursprünglich sollte das Stück eine simple Synchronisation zwischen dem Live-Spiel einer japanischen Schlagzeugerin und einem begleitenden Tonband sein. Doch im Laufe der Arbeit hat sich die anfängliche Konzeption beträchtlich gewandelt.
Grundsätzlich konnte ich zwei Feststellungen treffen:
1. Die übergroße Zahl der Schlaginstrumente in der zeitgenössischen westlichen Musik stammt aus nicht-europäischen Kulturen (Asien, Mittlerer Osten, Afrika); abgesehen von dem Sonderfall Indonesien entwickeln sich diese Instrumente nur sehr selten zu regelrechten Klaviaturen, die melodische Kontrapunkte ermöglichen. In vielen Fällen werden diese Instrumente einzeln (oder in Zweier- und Dreiergruppen) eingesetzt. Oft ist der Klang derart komplex, dass die Hauptschwingung - wo sie nicht ganz fehlt - kaum wahrgenommen werden kann. Die Instrumente stehen also im Widerspruch zu einem Großteil der Konzeptionen, auf die sich die westliche Musik gründet, die nur durch die Kombination (tonal, seriell usw.) präziser Schwingungsfrequenzen die Möglichkeit von "Musik" sieht. Daher die gegenwärtige Tendenz im Westen, Schlaginstrumente mit chromatischen Klaviaturen herstellen zu wollen. Sicherlich sind diese Entwicklungen interessant, doch sie stehen oft im Widerspruch zu der tieferen Natur dieser Instrumente.
2. Da die Perkussionsinstrumente häufig Einzelobjekte sind, werden sie also in ihrem Ursprungsland in der Form gelegentlicher Punktierungen gebraucht, sei es im Verlaufe eines im eigentlichen Sinne musikalischen Dialogs zwischen anderen Instrumenten, sei es im Rahmen eines Kults, einer Zeremonie usw.
Die Rezeption des Schlagzeugs im Westen scheint mir mit mehreren Problemen konfrontiert. Einerseits sind die Perkussionisten des 20. Jahrhunderts ein wenig das Gegenstück zu den Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts und lieben es wie diese, ihr Publikum durch die Vorführung schwindelerregender Kunststücke zu beeindrucken ... Andererseits verhindert das Fehlen von Klaviaturen und genügend kontrollierten Tonleitern die Konstruktion eines im westlichen Sinne musikalischen Dialogs und trägt dazu bei, jene Tendenz zum möglichst raschen Schlagen auf alle Instrumente zu verstärken, das oft den Gebrauch des Schlagzeugs in der zeitgenössischen Musik kennzeichnet.
In Yo-In wollte ich, abgesehen von einigen Instrumenten, die sich besonders für Virtuosenkünste eignen (Vibraphon, Marimba), dem Schlagzeug seinen punktierenden Charakter in einem Dialog - der hier durch das Tonband zustande kommt - wiedergeben. Doch hier ist jede Punktierung eine Art Intervention geworden (im Extremfall: ein einziger Schlag auf einem einzigen Instrument kann genügen!). Dabei wird die visuelle Komponente nicht völlig ausgeschlossen und manchmal auf eine psychodramatische Konnotation hingewirkt. Diese Interventionen zeichnen sich im geeigneten Augenblick dem fortlaufenden elektronischen Muster ein und erlauben es, die ursprüngliche Klangfarbe des jeweiligen Instruments zu erkennen, wenn es – nach zahlreichen Umwandlungsverfahren im Studio - im Band verwendet wird. Unter dem fortlaufenden elektronischen Muster verstehe ich das Gesamtprodukt des Bandes, wobei ebenso elektronische wie konkrete Materialien zur Anwendung kommen (insbesondere vorgefertigte Klangaufnahmen von Schlaginstrumenten).
Hierauf beziehen sich die oben zitierten Bedeutungen des Wortes "Yo-In". Der Widerhall mit seinen Harmonien ist natürlich derjenige, der zwischen dem Live-Ton und dem Tonband entsteht. Der psychische Widerhall der Erinnerung ist vor allem jener, den der Komponist erlebt, und der für ihn heraufbeschworen wird durch die verschiedenen verwendeten Materialien.
Da "Yo-In" einen beträchtlichen Umfang (vier Akte) hat, gewinnen darin die Interventionen des Perkussionisten - obwohl nicht theatralischer Art - die Funktion regelrechter Szenen einer imaginären Oper. Jeder Akt kann als ein Ritual betrachtet werden, wenngleich hinsichtlich dieses Wortes, das relativiert werden muss, eine gewisse Vorsicht geboten ist.
In "La musique et la transe" von Gilbert Rouget werden die Dinge deutlich zurechtgerückt: trotz ihrer unbestreitbaren und mitunter sehr intensiven psychisch-emotionalen Wirkungen kann die Musik nicht für sich allein die Trance eines Ergriffenen auslösen; innerhalb des Rituals ist sie nur eine von mehreren Komponenten. Das Ritual ist nur dann in vollem Sinne gegeben, wenn es sich einem genügend starken und etablierten sozialen oder religiösen Gewebe, einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten historischen Augenblick einfügt. Das Ritual ist also bei "Yo-In" ein imaginäres Ritual.
Einige Anhaltspunkte für die Gesamtkonstruktion:


1. Akt: Anruf - Anflehungsritual

Die Kins und Rins in Japan und Ching in China sind Tempelglocken. Man stellt sie umgekehrt auf ein Kissen. Kwong-WongLek: kleine hängende Gongs aus Thailand in Thailändischer Tonleiter.
Der Flehgesang, eine Art großer widerhallender, melodischer Chor, entsteht mittels zahlreicher spezieller elektronischer Behandlungen, ausgehend von einem einzigen mitgeschnittenen Schiffssirenenton. Daher am Ende die Einführung dieser Sirene, die die Einheit mit dem Anfang herstellt.


2. Akt: Vereinigungs- (oder Aufnahme-, Integrations-) Ritual

(Was dem Gedanken der Vereinigung zugrunde liegt, ist natürlich das akustische Zusammentreffen zwischen den abwechselnden Geräuschen von Maschinen - mitgeschnitten in Fabriken - elektronischen Klängen und den Klängen der Natur. Kulintan: ein kleiner Gamelan von den Philippinen; Pak: koreanisches Holzinstrument.)


3. Akt: Meditation - Betrachtungs-{Kontemplations-)Ritual

"Sein ganzer Körper gleicht einem Mund aufgehängt im leeren Raum
Es fragt all die verschiedenen Winde nicht woher sie kommen
Es singt Hannya ebenfalls für all die anderen
Tchi tsun tschon rlin tchi tsun tchin."
Gefolgt von einem Haiku von Basho.
Dazu ein solistisches Intermezzo mit Chinka, Schellenbaum, Chinka-Baum.

(Die für die Realisation verwendeten Instrumente waren: ein Baum mit tibetanischen Rasseln und ein Baum mit chinesischen Glöckchen. Gan-sa-dhan: aufgehängte Metallplatten aus Burma / Thailand; Chinka: tibetanische Rasseln.)


4. Akt: Befreiungsritual (Exorzismus) - Feier (Gedächtnisritual oder Hommage)

(Bei diesem letzten Ritual ist vorgesehen, dass der Hohn auf den Unterdrücker und die Hommage auf den Widerstands-Märtyrer sich vor rein symbolischen Gestalten oder Bildern abspielen. Aber es ist ebenso vorgesehen, diesen beiden Charakteren bestimmtere Züge zu geben, abhängig von der Aktualität, wenn diese solche Menschen ins Licht rückt.)
Jean-Claude Eloy


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