INVENTIONEN'84 Samstag,
18.2.1984
10. Konzert: TU Berlin und Teitelbaum 19:30 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße
In der traditionellen koreanischen Bauernmusik gibt es eine rhythmische Struktur, die den Möglichkeiten der elektroakustischen Musik unserer Zeit durchaus verwandt erscheint hinsichtlich der Multirhythmen, die bei Synchronisierung von z. T. komplizierten Zeitmustern entstehen. Das Zuspielband von Inventio ist aus einem einzigen originalen Klavierton auf G entstanden, dessen Dauer, Tonhöhe und Klangfarbe vielseitig manipuliert und umgeformt wurde. Alle Tondauern sind auf ein einheitliches Zeitraster, jedoch nicht schneller als ein Achtzehntel, abgestimmt, die Tonhöhen sind teilweise geringfügig verstimmt oder in subharmonische Reihen transponiert, die Klangfarben wurden durch bekannte analoge Verfahren modifiziert.
Im Klavierpart kommt dem angeschlagenen G bzw. den Bereich um G eine zentrale Bedeutung zu: es dient der rhythmischen Orientierung und stellt das Bindeglied zum künstlichen Klang dar. Den eigentlichen Kontrast zum Tonband mit seiner nur senkrecht orientierten Struktur bildet ein Thema, das die horizontale Dimension umspannt. Die zum Teil auch versteckten "Veränderungen über dieses Thema" kulminieren in einer langen, parallel laufenden Schlussfuge.
Zur Realisierung von "Harmonics 2" diente als Vorlage eine Klavierkomposition, in der als Grundidee das Nachklingen von Saiten stumm gedrückter Tasten verwendet wurde. Dabei rufen die fest angeschlagenen, realen Tasten eine elementar-unverdorbene Klangwelt von harmonischen Obertönen hervor. Diese Mikrowelt der "Harmonics" ist Träger eines irrationalen Klanges; so wie für die Darstellung der optischen Mikrowelt das Mikroskop dient, wurde hier die Elektronik eingesetzt, um die kaum hörbaren, feinen Klangereignisse zu verdeutlichen, zu verstärken, zu erweitern und zu bereichern. Zusätzliche Elemente wurden allmählich beigefügt, die in den originalen Klaviernachklängen nicht auftreten können (z.B. subharmonische Reihen und frequenzmodulierte Klänge). So ist die Mikrowelt der Spektren in positive und negative Richtungen erweitert worden.
Zur Realisation dienten: Originalklavierklänge, damit synchronisierte Computerstrukturen (Synclavier II) und Analogsynthesizer. "Harmonics 2" ist ein Klavierstück (geblieben).
Erste Ideen zu diesem Stück stammen aus dem Jahre 1980. Seitdem habe ich mehrmals das Konzept verändert. Die jetzige Fassung gliedert sich in 6 Teile:
1. Einleitung: Andante. Das Schlagzeug spielt ein variiertes Ostinato, entwickelt aus einem Tritonus. Die elektronischen Klänge bewegen sich räumlich (Nachahmung auch des Dopplereffektes).
2. Entwicklung: Largo mit meditativem Charakter. Rhythmische Sequenzen werden abwechselnd von Schlagzeug und Tonband gespielt. Das Tritonusmotiv geht in eine Folge von Accellerandi-Ritardandi über.
3. Anhalten des Tempos: Neben einem hohen Pedalton vom Band nimmt die Ton- und Informationsdichte des Schlagzeugs zu.
4. Erste große Steigerung: Die Rallentandi-Gruppen erhalten winzige rhythmische Verschiebungen und werden so als Unisono oder als neue Struktur wahrgenommen. Schlagzeug und Tonband stellen eine untrennbare Einheit dar; die Virtuosität des Spielers unterstützt das dramatische Crescendo. Nach der Kulmination bleibt der rhythmische Charakter (Ostinato) erhalten.
5. Kontinuum und zweite Steigerung: In ausgedehnten Schlagsequenzen wird das Tempo von 4. allmählich verändert (Presto). Es folgt abermals eine dramatische Entwicklung mit voller Intensität, wobei gleichzeitig das bekannte Rallentandomotiv erneuert und das "Urtempo" von ANDROMEDA wiedererkannt wird. Das Schlagzeug bewirkt hier eine Reprise der bereits bekannten thematischen Substanz, jedoch ist der formale Kontext ein völlig anderer.
6. Finale: Die Accelerando-Ritardando-Motive löschen die Presto Eigenschaften von 5. und verwandeln sich in das rhythmische Hauptthema des 4. Abschnitts.
Aus der Sicht der technischen Realisierung des Zuspielbandes von ANDROMEDA ist besonders die Ergänzung von digitaler und analoger Technologie (Synclavier und SynLab) zu nennen. Während erstere vorwiegend zur exakten Rhythmuskontrolle, definierter Spektralzusammensetzung und auch als Quelle diente, wurde der analoge Synthesizer hauptsächlich für die klangliche Veränderung eingesetzt.
Ich möchte hier besonders die enge Zusammenarbeit mit Folkmar Hein bei der Herstellung und Konzeption des Zuspielbandes von ANDROMEDA hervorheben.
ANDROMEDA ist Martin Schulz gewidmet.
Ricardo Mandolini
Teitelbaums Stücke, die vom Komponisten aufgeführt werden, benutzen den "Pianocorder", eine Art System für elektronisches Klavierspiel, das es ermöglicht, verschiedene Klaviere gleichzeitig von einer einzigen Tastatur aus durch Mikrocomputer zu betätigen. Richard Teitelbaum, ein Virtuose auf dem Synthesizer, nutzt nun die Techniken der Multi-Synthesizer-Performance für das akustische Klavier. Präzision und Komplexität des digitalen elektronischen Systems werden kombiniert mit der tonalen Vielfalt und dem Klangreichtum des traditionellen Flügels.
Musikautomaten existieren seit dem 14. Jahrhundert, und für sie ist komponiert worden von Hassler, Mozart (u. a. die große Fantasie, KV 608), Beethoven, Strawinsky, Hindemith u.a. Die ausgedehntesten und weitreichendsten Untersuchungen dieses Mediums wurden aber zweifellos von dem ausgebürgerten amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow durchgeführt, dessen außerordentliche "Studies for Player Piano" kürzlich nach jahrelanger Vernachlässigung "entdeckt" wurden.
Durch die digitale, elektronische Hardware, wie sie vom Marantz Pianocorder System benutzt wird, kann man ein oder mehrere Klaviere mit Computern steuern, um ein echtzeitliches, interaktives, mehrklavieriges Aufführungssystem zu schaffen.
Dieses System unterscheidet sich deutlich von früheren Musikautomaten dadurch, dass es gleichzeitig sowohl unter menschlicher wie unter nichtmenschlicher Kontrolle steht. Der Computer dient hier zur Erweiterung und Überhöhung der Fähigkeiten des Pianisten/Komponisten. Er gibt ihm z.B. die direkte Kontrolle über 80 Finger pro Klavier und die Fähigkeit, eine unendliche Vielzahl von musikalischen Augenblicksreaktionen und Veränderungen zu programmieren, während er spielt.
"Einige Jahre lang war ich mit dem Versuch beschäftigt, die Spontaneität und das Reagieren auf den Moment in der Improvisation mit dem größeren Maß an Kontrolle und Komplexität zu verbinden, die in strukturierter Komposition vorhanden sind. Bei der Arbeit mit Analog-Synthesizern habe ich dieses Problem im allgemeinen dadurch gelöst, dass ich ein komplexes elektronisches System oder 'network' von vielfältigen Klang- und Kontrollwegen 'komponiert' habe, die für Augenblicksauswahl und Kombinationen zur Verfügung standen. Das ermöglichte breitgefächerte Reaktionen von Timbre, Register, Höhe und seit kurzem auch Rhythmus.
Die Vorstellung von einer 'Realtime-Komposition' beginnt Wirklichkeit zu werden, seit Digitalspeicher und Steuerung sowohl die Ausdehnung der Steuerung über den Zeitfaktor im großen Stil als auch die sofortige Manipulation der vordergründigen Details erlauben." (Richard Teitelbaum)
Die heutige Aufführung der Digital Piano Music benutzt erstmals eine neue Patch Control Language (PCL), welche auf einem 68000-Prozessor mit zwei 6502 als Coprozessoren implementiert ist. Die Software wurde von dem Informatiker Mark Bernard entwickelt; sie besteht aus über 30 "Modulen", die beliebig miteinander verknüpfbar sind. Dies ist sowohl analog (durch Knöpfe, Tasten oder Potentiometer) als auch digital (durch Zähler, Uhren oder andere Logikfunktionen ) steuerbar. Die "Module" bilden einerseits musikalisch-traditionelle Operationen wie Anschlagsart, Transport- und Richtungssteuerung (z. B. Rückwärtsspiel), andererseits aber auch unübliche Manipulationen wie Zufallsfunktionen, die auf beliebige Parameter angewendet werden. Die Leistungsfähigkeit zusammen mit der einfachen Bedienbarkeit ermöglicht dem Komponisten/Interpreten eine eigene "Zero Patch" - Konfiguration, die sowohl vorbereitete als auch spontan-interaktive Kompositionsprozesse enthält.
Interessant ist auch ein von Mark Bernard neuentwickeltes Kontrollfeld, welches mit seinen 16 druckempfindlichen Sensoren, direkt über dem Keyboard angebracht, dem Spieler einen sehr schnellen Zugriff zu allen festlegbaren Steuerfunktionen erlaubt; dieser wird quasi zu einem elektrischen Dirigenten, wenn er sich, geerdet über ein Massekabel, den Sensoren nähert.
Ich habe mich schon lange dafür interessiert, den Körper mit elektronischen Bauteilen zu integrieren (mein erstes Synthesizerstück in tune (1962) benutzte Hirnströme und Herzschlag des Spielers zur Steuerung), weil ich meine, dass dies nicht nur kunst-ästhetisch interessant, sondern auch technisch effektiv ist.