INVENTIONEN'84                                                                                              Freitag, 10.2.1984
1. Konzert: INA-GRM I                                                                                       19:30 bis 00:40 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


GUY REIBEL: SUITE POUR EDGAR POE (Suite für Edgar Poe)

Musik aus Worten, Sätzen, klingenden Fragmenten, Bildern vom erhaschten Glück; sie ist dem Wunsch von Poe entsprechend eher denen, die "fühlen", gewidmet, als "denen, die denken, den Träumern und denen, die ihren Glauben in die Träume als einzige Realitäten gesetzt haben".
Die Beziehungen zwischen Musik und Text sind in jedem Satz unterschiedlich. In "ANNABEL LEE" umhüllt das musikalische Klanggewebe den Text wie klingender Dekor. Der Text von "SILENCE" wird in einem Sprechchor selbst zum musikalischen Material, in dem die Textelemente als Klangobjekte behandelt werden, zerstückelt, montiert, beschleunigt, verlangsamt. Ein Text durchpulst kontinuierlich die Musik von "OMBRE", die wiederum durch Elemente im Hintergrund den Ablauf des Textes wiederspiegelt.
Der musikalische Teil vermengt elektronische und konkrete Klänge mit vokalen Elementen, die von Christine Defressine und dem Ensemble "Musique Nouvelle" von Stéphane Caillat realisiert werden. Die Interpreten haben zuerst die Texte in verschiedenen Formen erlebt, erst dann entstand eine Partitur, um die Spiele zu ersetzen. Mit akustischen Misch- und Montiertechniken wurde die Vokalpartie vollendet und zu den elektronischen und konkreten Elementen kombiniert.
Der Text wird ohne besondere Umformung von Laurent Terzieff rezitiert, außer dem einen Satz in "OMBRE": "je suis ombre, .. " (ich bin Schatten ..); weil ich mich zwischen 15 von Terzieff vorgeschlagenen Versionen nicht entscheiden konnte, kam mir die Idee, sie alle zusammen zu artikulieren, und sie durch Vermischen, Verschieben, Filtern und Montieren zu orchestrieren.


JEAN SCHWARZ: VIER JAHRESZEITEN

Auftragswerk der INA/GRM                                                           "Meiner Mutter gewidmet"

Goethes Gedicht "Die Vier Jahreszeiten" wurde im Herbst 1797 auf dem Rückweg der Reise in die Schweiz geschrieben. Es existiert keine französische Übersetzung des deutschen Textes, der schon in der Originalsprache selten zu finden ist, und meistens sind nur "Herbst" und "Winter" in den geläufigen Gedichtsammlungen abgedruckt.
Die Musik der Goethe'schen Verse und die Musik der deutschen Sprache war bald in meiner Textauswahl bestimmender für die Vokalpartie als der Sinn der Worte. Ich wollte mit diesem Stück ein Fresko schaffen, dem Lied verwandt, in dem die elektronischen Klänge, die Klänge der Natur, die Umwandlungen des Orchesters eine solistische Stimme begleiten. Zuerst zerlegte ich den Text, dann realisierte ich gleichzeitig das Tonband und die Vokalpartie in chronologischer Ordnung: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Gesamtform orientiert sich an der viersätzigen Symphonie: Allegro, Andante, Scherzo, Adagio.
Auf die Gefahr hin, dekadent zu wirken, habe ich die Partitur des Solisten traditionell notiert, ohne akrobatische und performance-Spielereien – das alles, um den ersehnten lyrischen Charakter aufrechtzuerhalten.
Auch wenn man in der Komposition bei Auswahl und Organisation der Klangelemente allerart Risiken auf sich nehmen darf, so verlangt doch die Anwesenheit eines Interpreten gewissen Respekt vor der Tradition. Ein westlicher Mensch, der einen "gidayu" oder einen "Schamanen" imitiert, scheint mir deplatziert.
Im Anschluss an die Introduktion in A-Dur stellt sich das Spiel zwischen Tonband und Solisten ein. Dem Pointillismus der Stimmen antwortet die Strömung eines akzidentiellen Baches ... Die Iterationen und elektronischen Zellen hallen die Musik wider.
Auf dem Programm des heutigen Abends stehen die beiden Sätze Herbst (21'50) und Winter (12'15):

Herbst

Alle Blüten müssen vergehn, daß Früchte beglücken;
Blüten und Frucht zugleich gebet ihr, Musen, allein.

Ob du wachst, das kümmert uns nicht, wofern du nur singest.
Singe, Wächter, dein Lied schlafend, wie mehrere thun.

Winter

Wasser ist Körper und Boden der Fluß. Das neuste Theater
Thut in der Sonne Glanz zwischen den Ufern sich auf.

Schwimme, du mächtige Scholle, nur hin! und kommst du als Scholle
Nicht hinunter, du kommst doch wohl als Tropfen ins Meer.

 


IVO MALEC: TRIOLA OU SYMPHONIE POUR MOI-MEME (Symphonie für mich selbst)

Triola, drei wie Triolen, drei Sätze, drei Momente für die eine Ganzheit, unteilbar. In erster Linie erstaunt der sehr wichtige Anteil der Stille das ganze Werk hindurch. Ungewohnte Aufgabe für elektroakustische Musik, die zu oft zu Klangüberschwemmungen verleitet hat. Dieses Werk hier ist um Pausen herum angeordnet, die immer wichtiger, ja immer dramatischer werden; die Rede findet dort die Grundlage ihrer eigenen Tragik. Sie sind Zeiten der Reflexion, des in-Frage-Stellens, in denen der schöpferische Akt sich selbst reflektiert. Offensichtlich entstanden sie gezielt aus einer großen Sparsamkeit der Mittel, aus der Suche nach den vielfältigen Möglichkeiten ein- und desselben Klangmaterials im Gegensatz zur Übereinanderschichtung möglichst vieler Materialien; sie entstehen, verschreiben sich uneingeschränkt der Reinheit und sind in ihren Konturen klar wahrnehmbar, wie die so überaus deutlich abgegrenzten Strukturen im Eishimmel eines Tanguy. Sehr reine Klänge, die zu Musik werden, sich zu Melodiemotiven ordnen, deren Obsessionscharakter man nach und nach wahrnimmt. Zeichen des Erkennens, oder mehr noch Signale, wie der Schrei zu Beginn, vielleicht eine Frage: Wer bin ich? Wo stehe ich? Die Antwort findet man im Titel "Symphonie pour moi-même". Es ist nicht so einfach, sich nackt vor diesem zu gestaltenden, fordernden, harten Material wiederzufinden. "NUDA", Gegenwart der Stimme, das einzige Wort - gefolgt von einem kleinen (leisen) Lachen mit Echo -, das während des gesamten Werks präsent ist, in dessen letztem Teil es erst klar und deutlich wie ein nackter Feuerstein erscheint. Ein Rätsel oder die logische Konsequenz eines Weges. Die Nacktheit wie die des Bleistiftstriches eines Architekten beim Entwurf, hier so präzis und rigoros in ihrem Streben nach Kontrast, der eng mit der Form des Triptychons zusammenhängt, Kontraste zwischen den verschiedenen Flügeln, selbst im Innern jedes einzelnen Flügels, in den Registern, der Dynamik, den Rhythmen, die eine genaue Lektüre wie in einer alten "Notation" gewähren, für eine Musik augenfälliger Modernität, die dennoch ein Wort des Hinweises nicht scheut: "Symphonie". Von Turpituda ausgehend, über Ombra, erreicht man Nuda, solange die Musik ihren Weg verfolgt von schmelzendem Material zur tiefen Meditation des fröhlichen Spiels von widerhallenden Rufen und Geläute, um sich am Ende vor der gleichen geheimnisvollen Frage wiederzufinden, die der Schrei zu Beginn vorausahnen ließ, die Verwendung von Klang als Spiegel der Einsamkeit. Die Stille wird das letzte Wort haben.
Diesen Sätzen kann man sich, verkürzt dargestellt, auf drei verschiedene Arten nähern:

Poetisch
I.       Wüste – riesig und schroff. Wut, Zorn.
II.      abgeschlossener Ort - stumm und manchmal zischend. Unterschiedliche Gedanken.
III.    Nicht näher bestimmter Ort, aber er ist heiter. Kleine Spiegel. Lächeln - und dann, ohne Lächeln.

Analytisch
I.       Im wesentlichen polyphoner Teil, genauso im horizontalen Sinne (frontale Entwicklungen links-rechts-links und die Zwischenstufen) wie in der Tiefenwirkung (Verlagerungen vorne-hinten-vorne, besonders entlang der Mittelachse).
II.      Im wesentlichen harmonischer Teil: verschiedene harmonische Ebenen und unterschiedliche Oberschwingungen einer mehr oder weniger falschen Verwandtschaft, deshalb störend, überlagern sich ständig; trotzdem ist dieser Prozess nie wirklich abgeschlossen: die peitschenden Vertikalen drängen sich dazwischen, durchschneiden, regen von neuem an und ragen heraus.
III.    Im wesentlichen zyklischer Teil mit besonders vielen "Montagen": die neuen Materialien übernehmen allmählich die vorangegangenen, die im allgemeinen unterschiedlich formuliert werden, durchschnitten, umgedreht, gekürzt und erweitert werden.

Praktisch
I.       Man muss das Stück sehr, sehr laut hören. Man muss es durchstehen … aber anstatt sich nur die Ohren zuzuhalten, soll man den gesamten Körper öffnen und mit allen Poren hören.
II.      Den Körper (die Augen) wieder schließen und ihn langsam ins Innere der Töne wie in die Tiefen des Meeres tauchen und erst dort hören und meditieren.


IVO MALEC: WEEKEND

Realisiert mit einem Computer, ist dieses Stück in vier Teilen komponiert, die ich folgendermaßen betitelt habe:

Die zwei ersten Teile fordern drei Live-Synthesizer, während in den beiden anderen das Tonband alleine bleibt.
Die 'Ouvertüre basiert auf der Entwicklung sehr dichter und muskulöser Klangströme, ständig von Schichten aus Obertönen umgeben und durch Synthesizerklänge von außen zerhackt. Große Spannung. Im Gegensatz dazu erzwingen die Synthesizer im zweiten Satz - statt von außen zu attackieren - eine Dialektik von Austausch und Abfolge kleiner Bilder und schaffen endlich eine klare Ordnung der vorgestellten Objekte.
Nachdem sie sich von der Gewalt und Ironie der ersten beiden Sätze abgewendet hat, weicht die Musik im dritten Satz zur doppeldeutigen und bis zum Schmerz bleischwer belasteten Atmosphäre der Sonntagnachmittage ("Cloches, proches et lointaines") ab, um im vierten Satz ("à Wagner") zur Zelebrierung des "majestätischen Tons" zu führen. Diese Klangwogen, in denen der Computer ungewöhnlich volle Basstöne ermöglichte, diese komplexen Schichten, mehr oder weniger lesbar in dem manchmal "tonalen" und von Oberschwingungen umhüllten Aufbau; diese Überschwänglichkeit des Klanges hatte wegen seiner Überfülle nur einen möglichen Ausgang: den Bruch. Er kommt nämlich, und das sehr brutal: in ihren bei den letzten Minuten kippt diese Musik in eine "andere" Dimension um, schwarz und unterirdisch. Man wird, denke ich, ohne Mühe verstehen, warum dieser letzte Satz - ein spontaner und überaus natürlicher Einfall - sich als bescheidene Würdigung dessen präsentiert, weshalb Musik für mich nicht aufhört, ein Subjekt der Bewunderung und des grenzenlosen Erstaunens zu sein.


PIERRE SCHAEFFER: ETUDE AUX OBJETS (Etude über die Objekte)

L'Etude aux objets umfasst fünf Sätze:

Im ersten Satz (objets exposées ) formen acht unterschiedliche Klangobjekte eine Phrase, die dem ersten Lautsprecher übergeben wird, der zweite antwortet mit einem Gegenthema, das auch bei ihm aus acht gleichartigen Objekten besteht. Die Durchführungen erhält man durch Variationen des Themas, das seine Form den verschiedenen Sequenzen der Objekte in ihrer Abfolge und Überlagerung aufdrängt.

Der zweite Satz, genannt objets étendus, vereint das Klangmaterial, das allen fünf Sätzen gemein ist, indem er die Klänge untereinander so viel wie möglich verbindet.

Der folgende Satz (objets multipliés) präsentiert dasselbe orchestrale Material in anderer Form. Die sehr scharf artikulierten Klänge des ersten Satzes trennen sich in einem sich ausbreitenden Raum voneinander.

Der vierte Satz (objets liés) stellt Triller anhaltenden Tönen und langen, melodischen Gestalten kurze Explosionen gegenüber, die eine dramatische Spannung der Klänge erzeugen.

Der letzte Satz (objets rassemblés) versammelt die Objekte formal und vom Material her. Dieser Satz soll die unbegrenzten Möglichkeiten des Einsatzes ein- und desselben Teils des Klangkörpers zeigen, der ein vorher begrenztes Orchestermaterial zur Verfügung stellt.

Pierre Schaeffer (1960)

 


MICHEL CHION: REQUIEM

I. Zur Form: Es war nicht beabsichtigt, diese Musik nach einer raffinierten Geometrie, in der Zeit als Raum aufgefasst wird, zu entwickeln. Auch wenn das gesamte Requiem über einem System von Echos und Beziehungen konstruiert ist, die sich symmetrisch um eine gedachte Achse durch das Zentrum des Werkes zu lagern scheinen, war das nicht meine Absicht. Diese Form hat sich nach und nach ergeben. Dramatisch beabsichtigt spielt sie mit der Funktionsweise des Gedächtnisses und den Vorahnungen des Zuhörers, der, sobald er das Werk mehr als einmal gehört haben wird, es sowohl vorausahnen als auch in Erinnerung haben wird.
Die musikalische Analyse, die ich machen konnte, aus der ich hier einige Elemente zitiere, entstand erst lange nach der Komposition - allein zum Vergnügen. Man muss sie als Spiel auffassen, nicht als Schlüssel zur Welt der Träume, und man kann sie ganz einfach übergehen.
Wie entstehen die Echos und die klanglichen Beziehungen? Es handelt sich um Themen, musikalische Motive, die vom Elementarsten (Schleifen, unbearbeitetes Material) bis zum hochgradig Ausgearbeiteten (musikalische Durchführung) reichen. Sie werden an verschiedenen Stellen des Werks zitiert, aufgegriffen oder angekündigt - einige sind sehr eindeutig als Leitmotive zu identifizieren (z.B. der Refrain des Themas im DIES IRAE, im Finale zitiert), bei anderen handelt es sich um Begleitfiguren, also Material, das nicht unbedingt bewusst memoriert wird. Einen außergewöhnlichen Fall des Echoeffekts findet man in den kurzen Sätzen 2 und 9, die fast dieselbe "musique" verarbeiten, jedoch unter entgegengesetztem klanglichen Gesichtspunkt.
Das Zentrum des Werkes, Achse dieser Symmetrie, befindet sich im 6. Satz (EVANGlLE), in dem ein symbolischer Riss des Tonbandes eintritt, als eine Unterbrechung des Werkes, die zeitlich ein Fenster zur Ewigkeit öffnet, und einen Blick in "etwas Anderes" erlaubt.
Innerhalb dieser zweigeteilten großen Form befinden sich die kleinen Formen jedes einzelnen Satzes: Refrains und Episoden, Litaneien, Rezitative in Stufendynamik etc. Ein anderer formaler Verlauf ist gekennzeichnet durch sukzessiven Einsatz zahlreicher Vokalisten, ihres Timbre, ihrer Intonation, ihrer Beziehung zum Text. Der einzige Moment, in dem man eine klare Stimme, gut gestützt und keinen Widerspruch duldend, vernimmt, ist dem zentralen Punkt im Evangelium ("er wird auferstehen") zugeordnet. Ihr plötzliches Auftreten scheint das gesamte System zu verwirren und den Bruch zu provozieren …

II. Zum Text: Der Text dieses Requiems ist, wie in den großen klassischen Requien, die Totenmesse, hier erweitert durch eine Epistel, einen Abschnitt aus dem Evangelium und dem Vaterunser. Er wird in Originalsprache (Latein oder griechisch) gesprochen, einige Male in französisch.
Das Requiem ist weniger für die schweigende Mehrheit der Toten als im Gedenken an die bewegte Minderheit der Lebenden geschaffen worden. Dem Zuhörer stellt es sich als Erlebnis von Gefühlen und Empfindungen dar, vergleichbar einem dramatischen Wettlauf auf einer unsicheren Strecke, deren plötzliche Kurven ein Gefühl der fundamentalen Unsicherheit dem Leben, dem Tod und der Religion gegenüber vermitteln, eine Unsicherheit, wie wir sie alle tief im Inneren verspüren.
Übrigens habe ich versucht, dieses Oratorium zu einem "grand spectacle aurticulaire", einem großartigen Hörerlebnis zu machen - Musik auf Breit-Leinwand. Der Einfluss von bestimmten Regisseuren, ja, sogar von bestimmten Filmen, lässt sich - zumindest für mich - dadurch erkennen, wie mit Form, Zeit und Raum gespielt wird und nicht so sehr mit realistischen Bildern. Ein anderer Einfluss, auch ihn nahm ich erst nach der Vollendung wahr, ist "Doktor Faustus" von Thomas Mann gewesen. Die Passagen, die der Beschreibung von Adrian Leverkühns imaginären Werken gewidmet sind, haben mich vielleicht zu jenem größenwahnsinnigen Traum inspiriert, einige Bruchstücke davon in die Welt der Klänge zu übertragen.
Mit dem Requiem wollte ich keine Botschaft übermitteln, es ist kein pro- oder antireligiöses Manifest. Es handelt sich bei diesem Werk um ein persönliches Bekenntnis, und ich lade den Zuhörer ein, sich selber hinein zu versenken und dieses Werk mit seiner eigenen Erfahrung und Empfindungsgabe zu beleben.


REQUIEM, in zwei Teilen und zehn Sätzen über Texte aus der Totenmesse

Teil 1

Teil 2

 


PHILIPPE MION: TROIS ESQUISSES OUVERTES (Drei offene Skizzen)

Ich träume von einer wild zuckenden Musik ... Vorbedingungen der Schrift und des Instrumentenbaus haben bestimmt meine Träume in eine Richtung gedrängt, und das ist gut so.
Dem Stück liegt überhaupt kein theoretischer Plan zugrunde, vielmehr ist die Musik aus Launen entstanden, die im Laufe zahlloser Arbeitsphasen, die mir das Trio gewährte, über mich kamen. Die drei Synthesizer sind voneinander unabhängig, es gibt also keine elektronischen Interaktionen der einen über die anderen. Das Stück begeht drei unterschiedliche Wege, und der Ausdruck eines jeden ist gezielt personalisiert. Ausgewogenheit bildet sich und kippt wieder um; das ähnelt ein bisschen der leichtfüßigen Unterhaltung zwischen drei klugen Köpfen.
Wahrscheinlich besteht dort der innere Zusammenhang, der sich im Laufe der Arbeit einstellte, und zwar eine veränderliche und unbeständige Polyphonie zu schaffen (Schlagabtausch der unterschiedlichen Kräfte, Imitation, Unterwerfung, Orchestrierung) und flexibel die Autonomie und Vertikalitätsprinzipien in Einklang zu bringen, diese leiten ja das Ensemble.
Was das Fleisch und Blut angeht, das man diesen Synthesizern entreißen wollte, gestehe ich eine ausgesprochene Schwäche für alle ein wenig organischen Phänomene (manchmal an der Grenze zum "Tierischen"), für alles Farbige, Naive und Freche - warum nicht?


L. CUNIOT, D. DUFOUR, Y. GESLIN: SITUATIONS DE JEU

Die "Spielsituationen" nehmen einen besonderen Platz im Repertoire des Trios ein. Zugleich kollektives Werk und Improvisation über Spielweisen, die vorher ausprobiert und registriert wurden, spiegelt das Ensemble genau die Schwerpunkte des Trios wieder, sowohl im Bereich der musikalischen Ästhetik als auch auf dem Gebiet der Eigenheiten live gespielter elektroakustischer Musik, besonders wenn man den Synthesizer als Musikinstrument und nicht als Töne produzierende Maschine betrachtet.
lnnerhalb eines konstruierten, ja manchmal sogar durch eine Partitur festgehaltenen Rahmens, in den nur das Detail des Einfalls frei bleibt, entwickelt jeder Satz "Situationen" oder Spiel-, Artikulations- oder Phrasenrelationen, kurz gesagt, eher Relationen der Anwendung von Klangformen und -material, das nach formalen Kriterien und Klangfarbenstrecken (Steigerung im Zusammenhang mit dynamischen Bewegungen oder Nicht-Bewegungen) ausgewählt und zwischen den Musikern aufgeteilt wird, als dass es in kontrapunktischen und harmonischen Konstruktionen organisiert wird.
Die "Situationen" können getrennt oder in einem Durchlauf unterschiedlicher musikalischer Sequenzen gespielt werden.

FRANCOIS BAYLE, BERNARD PARMEGIANI: LE PARADIS

In der Göttlichen Komödie von Dante stehen das Feuer, die Flammen des ENFER und des PURGATORIUM für ungestümen Drang, das Licht des PARADIS hingegen lodert nicht. Glühende lebendige Funken werden zu einer starren Substanz verwoben, außerhalb der Zeit gedrängt, und ihre feine Granulierung entzieht sich allmählich dem Sinn. "... aus den Lichtern, die meine Sinne trafen, breitete sich eine Melodie aus … " (14. Gesang). Im 26. Gesang durchquert diese Reise im "Kristall, der unsere Welt umgibt", eine seidene Zone reiner Stille.
Diese Anspielungen bieten der Musik ein Feld. Dafür wurde die Form des Mobile gewählt. Es ist aus zwei durchlaufenden Elementen komponiert, sowie einer vorbereiteten Anzahl von Ereignissen und Schriftzeichen, die sich während der Aufführung spontan ergeben, entsprechend den vorher definierten musikalischen Bedingungen.
Die bei den Autoren haben ihr "Material" und ihre persönliche "Handschrift" zusammengetan, um das musikalische Feld zu bestellen. Die variable Verflechtung der andauernden Elemente, die Verteilung der "Präparierungen" wandelt die Aufführungen des Werks ab und setzt die Kleinstrukturen in Bewegung.
Die Konstruktion dieses Mobile sieht das Spiel zweier Interpreten an den Synthesizern auf der Bühne vor, das in die auf Tonband präparierten Schichten eingreift, die gleichzeitig von einem dritten Interpreten am Akusmonium artikuliert und gespielt werden.


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