INVENTIONEN'82                                                                                              Mittwoch, 31.3.1982
2. Konzert                                                                                                            20 Uhr
Akademie der Künste, Ausstellungshalle


IANNIS XENAKIS

Geboren 1922 als Sohn griechischer Eltern in Rumänien. Absolvierte ein ingenieurwissenschaftliches Studium am Polytechnikum Athen. Wurde als Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg gefangen genommen und zum Tode verurteilt. 1947 Flucht nach Frankreich. Seit 1965 französischer Staatsbürger. 12 Jahre lang Mitarbeiter von Le Corbusier. Studierte Komposition bei H. Scherchen, O. Messiaen, D. Milhaud. Er wurde Vertreter der "stochastischen" und "symbolischen" Musik, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung und Mengenlehre auf die instrumentale und elektronische Musik anwendet. Gründer und Direktor des "Centre d'Etudes de Mathematique et Automatique Musicales" (CEMAMu) in Paris, Dozent an amerikanischen Universitäten, Professor an der Sorbonne. Schrieb über 75 Kompositionen für verschiedene (alle) Medien. Unter den elektroakustischen Werken sind zu nennen:
DIAMORPHOSES (1957), ORIENT-OCCIDENT (1960), BOHOR (1962), HIBIKI-HANA-MA (12- spurig, verteilt auf 800 Lautsprecher, 1970), MYCENAE-ALPHA (erstes Stück auf dem Grafik-orientierten Computersystem UPIC des CEMAMu's, 1978), DIE LEGENDE VON ER (Musik für DIATOPE, 1978), POUR LA PAIX (Computermusik mit Chor und Sprechern, 1982). Jannis Xenakis war 1962/63 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.


BOHOR (1962)

Elektronische Musik für 8-spuriges Tonband (Bohor - einer der Ritter aus König Artus' Tafelrunde)
Dies ist die letzte von fünf elektronischen Arbeiten, die Jannis Xenakis im Studio der Groupe de Recherches Musicales des Französischen Rundfunks Paris, komponierte. Das Werk ist Pierre Schaeffer gewidmet.
Laut Komponist ist BOHOR eine einheitliche Musik, von innerer Vielfalt, sich nähernd und zum Schluss sich wieder zurückziehend. Die räumliche Projektion der acht Spuren dient hier nicht der Steigerung der kinematischen Wahrnehmung, sondern soll die Klangqualität bereichern. Die erzielte Verbesserung der akustischen Wahrnehmung enthüllt - eine Fülle von Information benutzend - die unendlich variierbare Vielfalt von Mikrostrukturen. Der Komponist vermeidet bewusst jede weitere inhaltliche Information zum Stück, um jeden Zuhörer seinen eigenen Zugang finden zu lassen.


MYCENAE-ALPHA (1978)

ist die erste Komposition für das graphisch orientierte Computersystem UPIC (Unité Polyagogique Informatique du CEMAMu). Die Computermusik ist einspurig aufgezeichnet.


Die Legende von ER (1978)

Die "Legende von ER" ist der Titel des musikalischen Teiles von DIATOPE (einer "automatisierten, klanglichen, visuellen und architektonischen Komposition, erdacht, gestaltet und realisiert von Jannis Xenakis").
DIATOPE besteht aus drei eigenständigen Teilen: der "Architekturkomposition" (einem transportablen Kunststoffzelt) , der "Licht- und Laserkomposition" und dem musikalischen Teil, der "Legende von ER". DIATOPE stellt die letzte Phase spezieller Forschungsarbeit dar,
mit der Xenakis sich seit 1958 beschäftigt hat - der Zusammenführung von Musik, visueller Kunst, von Architektur und Wissenschaft mit ihren jüngsten Entwicklungen im Bereich der Mathematik, Physik, Kybernetik, der Computertechnik, der abstrakten Malerei, neuer Architektur, der Musik. Als Ergebnis der bisherigen Versuche entstanden als "Meilensteine" der Philips Pavillon (Weltausstellung Brüssel 1958), "Montreal Polytope" (Französischer Pavillon, EXPO '67), "Persepolis" (auf den Ruinen und dem Berg von Persepolis, 1971), "Polytopes I und II von Cluny" (Cluny Museum, Paris 72-74) und "Polytope von Mycenae" (bei Mycenae, 1978) ..
DIATOPE entstand als Auftragswerk für die Eröffnung des Centre Georges Pompidou in Paris und war auf dem ,Platz vor dem Centre vom Juni 1978 bis Januar 1979 dreimal täglich an sechs Wochentagen "in Betrieb". Anlässlich der Bundesgartenschau in Bonn wurde DIATOPE von Mai bis Oktober 1979 auf dem Bahnhofsplatz in Bonn vorgestellt. Die Endfassung von der "Legende von ER" wurde vom WDR produziert.
Der musikalische Teil von DIATOPE, "DIE LEGENDE VON ER", umfasst drei Klangfamilien, die Instrumentalmusik, wie beispielsweise die tönenden Sternschnuppen zu Beginn und am Ende mit Klängen afrikanischer Maultrommeln, japanischer Zuzumis usw., Geräusche, wie beispielsweise von besonders ausgewählten Steinen, von geriebenen Kartons usw., Klänge, die mit Hilfe mathematischer Operationen im Computer realisiert wurden.
Zur Verdeutlichung des gedanklichen Panoramas des musikalischen Teiles hat Xenakis einige Texte aus verschiedenen Epochen der Menschengeschichte unter dem Titel "Die Legende von ER" zusammengestellt (Platon: "Der Staat" 10. Buch; "Poimandres" - Ausschnitt aus dem 1.Buch des Corpus Hermeticum, einer Sammlung von 17 theosophischen Schriften, Ende des 3.Jhrdtsj Blaise Pascal "L'Infinité", Auszug aus "Pensées"; Jean Paul, Traumerzählung aus "Siebenkäs"; Robert P. Kirshner "Supernovas in anderen Galaxien".) Diese Legende, die am Ende von Platons "Staat" erzählt wird, fasst Gedanken über moralisches Verhalten, über das Schicksal, über physikalisches und transphysikalisches Universum, von Tod und Leben in einem geschlossenen System zusammen, und besitzt aufgrund seiner apokalyptischen Visionen gleichzeitig höchste dichterische Kraft.
(Ausführliche Anmerkungen von Jannis Xenakis zu DIATOPE liegen gesondert aus).

 


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Weitere Texte, die für die Konzertbesucher auslagen:


KLANG - LASER/LICHT - BEWEGUNG

Anmerkungen zu "DIATOPE"
von
Iannis Xenakis

Musik ist keine Sprache. Jedes Musikstück ist eine Art Felsblock in einer komplexen Form mit Schrammen und Mustern, die darauf oder darein geritzt sind und die Menschen auf tausend verschiedene Weisen entziffern können, ohne dass eine dieser Weisen die beste oder wahrste wäre. Aufgrund dieser Vielfalt von Deutungen fördert die Musik wie ein Kristallkatalysator alle möglichen Phantasmagorien zutage.
Mir geht es in erster Linie um die Abgründe, die uns umgeben und zwischen denen wir leben. Die großartigsten sind die, die unser Schicksal heißen, Leben und Tod, sichtbares und unsichtbares Universum. Die Zeichen, die uns aus diesen Abgründen zugesandt werden, erreichen uns auch als Licht und Klang, welche die beiden wichtigsten Sinne ansprechen, die wir besitzen. Darum stellt sich DIATOPE als ein Ort der Verdichtung solcher Zeichen aus den verschiedenen Welten dar. Die architektonische Form ist gleichzeitig geschlossen-rund und offen-fließend in Richtung auf die unbekannten Abgründe.
Das verstandesmäßige Wissen ist dem intuitiven Wissen, der Offenbarung, eingeschmolzen. Beide voneinander zu trennen, ist nicht möglich. Die Abgründe sind nicht erkennbar, das heißt ihr Erkennen ist eine ewige und verzweifelte Flucht durch die Jahrhunderte, markiert mit den Richtpfählen von Hypothesen.
Es ist schwierig und wahrscheinlich auch gar nicht notwendig, das Schauspiel DIATOPE und seine Musik bis in alle seine Einzelheiten hinein zu erklären. Der Sinn dieser Spiele von Licht und Klang wird in etwa greifbar in den im folgenden abgedruckten Texten, bemerkenswerten Auszügen aus Werken bedeutender Autoren. Das Schauspiel und seine Musik stehen dabei auf vielerlei Weise im Gleichklang mit den Texten, die eine Art schwingender Saite bilden, die vom Menschen im Raum und in der Unendlichkeit des Kosmos ausgespannt wurde, eine Ideen-Saite, eine Saite der Wissenschaften und der Offenbarungen, die in ihr eingedrillt sind. Das Schauspiel besteht aus Harmonien, die diese kosmische Saite hervorgehracht hat. Die Texte jedenfalls erklären alles besser, als es jede sonstige Erklärung vermöchte. Sie sind die Inhaltsangabe des Spiels aus Licht und Klang.
Dabei habe ich in der Art eines Panoramas einige bedeutendere und an Ideen und Poesie besonders reiche Epochen ausgewählt und aus ihnen einige Texte zusammengestellt, die mir Gipfelpunkte zu markieren scheinen - Gipfel freilich, die ich nur neben anderen als besonders hervorragend erfunden habe. Ich habe diesen Texten den Titel "Die Legende von ER" gegeben, weil diese Legende, die paradoxerweise am Ende von Platons "Staat" erzählt wird, Ideen von der Moral, vom Schicksal, vom physikalischen und transphysikalischen Universum, von Tod und Leben in einem geschlossenen System zusammenfasst, das wegen seiner apokalyptischen Visionen gleichzeitig höchste dichterische Kraft besitzt.
Dem grandiosen dichterischen und rationalistischen Realismus Platons stelle ich einen hermetischen Text aus den "Poimandres" des Hermes Trismegistos gegenüber, Ausfluss der abstrakten Mystik der Offenbarung durch Ton, Licht, Abstraktion. Es folgt die verzweifelte Vision Jean Pauls aus dem "Siebenkäs", wo der Mensch in der schwarzen Nacht des Universums allein gelassen erscheint. Und schließlich noch das schwarze Universum, wie es sich den Augen der modernen Wissenschaft der Astrophysik darstellt.

Einige Grundprinzipien der Komposition

Architektur

Die äußere Erscheinungsform der Kunststoffhülle von DIATOPE ist die Verwirklichung einer Idee, die ich seit mehr als zwanzig Jahren in mir herumgetragen habe.
Sie ist die Antwort auf eine seit jeher aktuelle, aber bisher nie befriedigend gelöste Frage: welches ist die ideale architektonische Form für musikalische oder visuelle (theatralische) Darbietungen? Ich meine, dass es darauf nicht nur eine einzige richtige Antwort geben kann. Aber ich behaupte ebenso, dass die Wirkung architektonischer Formen einen quasi taktilen Einfluss auf die Qualität der Musik oder des Spektakels hat, die sich in ihnen abspielen - und zwar jenseits aller spezifisch akustischen Überlegungen oder der Berücksichtigung optimaler Sicht- und Hörverhältnisse. Architektonische Formen sind dabei in diesem Zusammenhang bisher in der Regel missachtet oder doch als nicht wichtig erachtet worden. Das Ergebnis sind die zahllosen kubischen oder polygonal rechteckigen Säle, die alle den Prinzipien des vertikalen oder auch hin und wieder des konischen Zylinders verpflichtet sind. Die Architekten scheinen wie vor den Kopf gestoßen, wenn es sich darum handelt, der Erfindung neuer Formen freien Lauf zu lassen, die den dreidimensionalen Raum krümmen und verbiegen.
Ich wollte daher eine neue Lösung vorschlagen, die Ähnlichkeit hat mit derjenigen, die ich bereits einmal für Le Corbusier beim Philips-Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel ausgearbeitet hatte. Dabei musste die Form des DIATOPE, vor allem wegen der in ihm verwendeten Laserstrahlen, auch noch dem folgenden Prinzip gehorchen: ein Maximum von freiem Innenraum bei einem Minimum von bedeckter Außenfläche gewährleisten. Die klassische Antwort darauf ist die Kugel. Doch die Kugel ist, so vollkommen sie an sich sein mag, schlecht für die Akustik und auch für die taktilen Sinne weniger dankbar als andere doppelt gekrümmte Formen. Daher die für DIATOPE realisierte Lösung, die im Prinzip eine Kugel darstellt, eine jedoch offene, durch ihre Fluchtlinien in die Welt hinein geöffnete Kugel.

Musik

Die Musik zur "Legende von ER" besteht aus folgenden Klangfamilien:

  1. Instrumentalmusik, wie beispielsweise die tönenden Sternschnuppen zu Beginn und am Ende mit Klängen afrikanischer Maultrommeln, japanischer Zuzumis ... ;
  2. Geräusche, wie beispielsweise von besonders ausgesuchten Steinen, von geriebenen Kartons ... ;
  3. Klänge, die mit Hilfe mathematischer Operationen im Computer realisiert wurden, im Centre d'Études de Mathématique et Automatique Musicales (CEMAMU) in Paris.

Hierbei habe ich eine neue Art der Herstellung von Klängen zur Anwendung gebracht, die verschieden und teilweise sogar entgegengesetzt ist der Methode, wie sie gemeinhin in den Elektronischen Studios und den Laboratorien üblich ist, die Computer und die numerisch-analogische Umwandlung verwenden. Ich gehe nicht mehr aus von der Analyse und Synthese Fouriers, die es ermöglichten, Töne mit Hilfe von Bündeln harmonischer Sinustöne oder Teiltönen zu erzeugen. Die neue Methode konstruiert und wirkt direkt auf die Kurve Druck-Zeit, die ja bekanntlich im Trommelfell endet. Dabei habe ich Funktionen der Wahrscheinlichkeit verwendet, um die Kurven Druck-Zeit zu erzeugen, das heißt, dass ich direkt in 1/40 000 Sekunden gearbeitet habe. Von der traditionellen Arbeitsweise bleibt lediglich der Begriff der Periodizität erhalten, doch in einem sehr weiten Sinne, das heißt der stochastischen Umbildung der Äquivalenz der Werte des Drucks und der Werte der Dauer. Die hier verwendeten Funktionen sind im wesentlichen die von Cauchy (t/(t2 + x2) ) und die berühmte "logistique" exp(- x-ß)/(l + exp -dx - ß), sowie die Funktionen dieser Funktionen. Es handelt sich also um eine kontrollierte Verarbeitung der Brown'schen Annäherungen (random walk) .
Diese Klangfamilien, von denen einige beim WDR realisiert wurden, wurden späterhin im Elektronischen Studio des WDR, der im übrigen die Musik in Auftrag gegeben und ihre technische Herstellung finanziert hat, weiteren Behandlungen mit Filtern und Reflektoren sowie Veränderungen der Geschwindigkeiten und verschiedenen Mixturen unterworfen. Die Musik ist auf einem siebenspurigen Tonband gespeichert. Jede Spur wird über elf Lautsprechergruppen unter der Hülle von DIATOPE ausgestrahlt. Die Ausstrahlung der klingenden wie der visuellen Elemente der Komposition wird von einem Computer gesteuert, der entsprechend programmiert ist.

Licht

Die visuellen Elemente von DIATOPE sind nach mobilen Gesichtspunkten angelegt, ausgehend von punktuellen (Elektronenblitze) oder linearen (Laserstrahlen) "Aktionen". Die 1680 Elektronenblitze bilden Galaxien in Bewegung, deren Eindruck durch das sehr rasche (im Abstand von 1/25 Sekunde mögliche) Aufblitzten erzielt wird, und stellen alle möglichen Figuren und Figurationen dar, die sich durchdringen, einander auslöschen, voneinander abprallen und sich neu bilden. Es versteht sich von selbst, dass der Ablauf dieser Licht-Spiele in seiner Kontinuität oder Diskontinuität geregelt wird durch die enge Verwicklung mit mathematischen Funktionen, die von Funktionen imaginärer (komplexer) Zahlen bis zur Anwendung von Größen der Wahrscheinlichkeit reichen. Die Strahlen von vier Laser-"Kanonen" werden von rund vierhundert Spezialspiegeln und anderen Formteilen "behandelt", die jeweils ihrer gewollten Wirkung entsprechend konstruiert sind. Kurz gesagt, wie unser Universum aus Teilchen (Materie) und Strahlen (Photonen) besteht, die nach den Gesetzen der Stochastik (Wahrscheinlichkeit) agieren, so versucht dieses Spiel aus Klang und Licht, dieses Universum in einem stark verkleinerten und dabei symbolischen und abstrakten Spiegelbild deutlich und erlebbar zu machen. In einem gewissen Sinne wird hier die "Harmonie der Sphären" des Kosmos mit den Mitteln der Kunst identisch mit der Harmonie des Denkens.



für Xenakis: DIATOPE April 1979

Blaise Pascal (excerpt from Pensées)

I. Platon: Der Staat (Zehntes Buch) (Ausschnitt)

… Ich werde jedoch, sagte ich, keine Erzählung eines Freundes von Mären, wie Alkinoos einer war, sondern eines Mannes von Ehren berichten, von Er, dem Sohne des Armenios, eines Pamphyliers von Geburt. Dieser war einst in einer Kriegsschlacht gefallen, und als nach zehn Tagen die Leichname bereits verwest aufgehoben wurden, ward er noch unversehrt gefunden; nach Hause gebracht, lebte er im Augenblicke seiner Bestattung am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen wieder auf, und nach seinem Wiederaufleben erzählte er die Dinge, die er im Jenseits gesellen habe. Er sprach aber wie folgt: Nachdem seine Seele aus ihm gefahren, sei er mit vielen anderen gewandelt, und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei nahe an einander stoßende Öffnungen gewesen seien, und am Himmel gleichfalls oberhalb zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen Öffnungen seien nun Richter gesessen: diese hätten allemal, nachdem sie ihren Urteilsspruch getan, den Gerechten befohlen, den Weg rechts und durch den Himmel zu wandern, nachdem sie ihnen zuvor vorn ein Zeichen von beurteilten Taten angehängt; die Ungerechten aber hätten sie nach der Öffnung zur linken Hand, und zwar nach unten (unter die Erde), verwiesen, und auch diese hätten ihre Zeichen, aber hinten, anhängen gehabt über alles das, was sie verübt hätten. Als nun auch er vorgekommen sei, hätten sie ihm bekannt gemacht, er müsse den Menschen ein Verkündiger des Jenseits werden, und sie hätten ihn aufgefordert, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen. Da habe er denn nun gesehen, wie nach der einen Öffnung in dem Himmel (rechter Hand) und nach der andern in der Erde (linker Hand) die Seelen abgegangen seien, nachdem sie jedesmal ihren Urteilsspruch vernommen hätten; aus den beiden anderen neben jenen beiden seien aus der in der Erde Seelen hervorgekommen voll Schmutz und Staub, aus der im Himmel dagegen seien andere, von jenen verschiedene, reine Seelen herabgestiegen. Und die jedesmal ankommenden Seelen hätten den Anschein gehabt, als kämen sie von einer langen Wanderung, wären sehr vergnügt auf der bekannten Wiese angelangt und hätten wie zu einer festlichen Versammlung sich hingelagert. Die mit einander Bekannten hätten sich gegenseitig begrüßt, und die aus der Erde Angekommenen hätten bei den andern sich um die Verhältnisse des Jenseits erkundigt, und die aus dem Himmel Kommenden hätten jene gefragt, wie es bei ihnen herginge. Da hätten sie nun einander erzählt, die einen klagend und weinend, indem sie sich erinnerten, wie große und was für Leiden und Anblicke sie auf der Wanderung unter der Erde gehabt hätten (die Wanderung dauere nämlich tausend Jahre); die anderen dagegen aus dem Himmel hätten von ihrem Wohlergehen erzählt und von dem unbeschreiblich Schönen, das sie geschaut hätten.
So hätten diejenigen, die dadurch, daß sie Städte oder Heere verraten und in Knechtschaft gestürzt oder sonst ein großes Unglück mit angefangen hatten, eines mehrfachen Todes schuldig waren, für jede einzelne aller dieser Taten zehnfache Peinen bekommen.
Denn wir sahen unter anderen schrecklichen Schauspielen auch dieses: Nachdem wir nahe bei der Öffnung und im Begriffe waren, nach Ausstehung aller übrigen Leiden, herauszutreten, da erblickten wir jenen Ardiaios auf einmal nebst vielen anderen, meistenteils Tyrannen: es waren nämlich darunter auch solche, die nichts mit dem Staate zu tun gehabt, aber zu den größten Verbrechern gehörten. Als diese meinten, daß sie nun heraussteigen könnten, da gestattete es die Öffnung nicht, sondern ließ jedesmal ein Gebrüll hören, wenn einer von diesen in ihrer Seelenverderbnis Unheilbaren oder einer, der noch nicht hinlänglich gebüßt hatte, herauszutreten wagen wollte. »Da waren nun«, sagte er, »gleich wilde und feurig aussehende Männer bei der Hand, die jenen Laut verstanden, einige ergriffen und wegführten; dem Ardiaios aber und andern banden sie Hände, Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder, schunden sie recht, schleiften sie hernach aus dem Wege und marterten sie auf Dornhecken herum; dabei deuteten sie den jedesmal Vorbeigehenden an, weswegen sie dies erlitten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros geworfen zu werden.«
Nachdem nämlich die jedesmal Ankommenden auf jener Wiese sieben Tage zugebracht, hätten sie sich an dem achten aufmachen und von hier an weiterwandern müssen, und da wären sie dann am vierten Tage in eine Region gekommen, wo man von oben herab einen durch den ganzen Himmelsraum über die Erde hin ausgebreiteten geraden Lichtstrom gesehen habe, wie eine Säule, ganz dem Regenbogen vergleichbar, aber heller und reiner. Nach einer Tagereise wären sie nun da hineingekommen und hätten dort mitten in jenem Lichte gesehen, wie die äußersten Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden Querbänke an den Dreiruderern, und halte so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht, durch welche Spindel alle möglichen Sphären bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken aus Stahl, der Wirtel aber habe aus einer Mischung von Stahl und anderen Metallarten bestanden.
Wenn nun so die ganze Spindel sich herumdrehe, so kreise sie zwar in demselben Schwunge; während des Umschwunges des Ganzen aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsamer, in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwünge. Am schnellsten von ihnen gehe aber der achte; den zweiten Rang der Schnelligkeit hätten zugleich mit einander der siebente, sechste und fünfte; den dritten im Umschwünge, wie es ihnen geschienen, habe der vierte Kreis gehabt; den vierten der dritte, und den fünften der zweite.
Gedreht aber werde die Spindel zwischen den Knien der Notwendigkeit. Auf ihren Kreisen aber säßen oben auf jeglichem eine sich mit umschwingende Sirene, welche eine Stimme, jedesmal einen zum Ganzen verhältnismäßigen Ton, hören läßt: aus allen acht insgesamt aber erschalle eine Harmonie. Rings aber säßen drei andere Gestalten in gleicher Entfernung von einander, eine jede auf einem Throne, nämlich die Töchter der Notwendigkeit, die Parzen, in weißen Gewändern und mit Kränzen auf dem Haupte: Lachesis, Klotho und Atropos, und sängen zu der Harmonie der Sirenen; Lachesis besänge die Vergangenheit, Klotho die Gegenwart, Atropos die Zukunft. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer rechten Hand den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos ebenso die inneren Umkreise mit der linken, Lachesis aber berühre abwechselnd die inneren und äußeren mit beiden Händen.
Sie hätten nun, nachdem sie angekommen seien, alsbald sich zur Lachesis begeben. Da habe eine Art von Prophet sie in eine Reihe gestellt; er habe hierauf aus dem Schoße der Lachesis Lose und Lebensmuster genommen, sei damit auf eine hohe Bühne gestiegen und habe da also geredet: »Es spricht die Jungfrau Lachesis, die Tochter der Notwendigkeit: Eintägige Seelen! Es beginnt mit euch eine andere Periode eines sterblichen und todbringenden Geschlechts; nicht euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze der Notwendigkeit vermählt bleiben wird. Die Tugend ist aber unabhängig von jedem Herrn: von ihr erhält ein jeder mehr oder weniger, je nachdem er sie in Ehren hält oder vernachlässigt. Die Schuld liegt an dem, der gewählt hat. Gott ist daran schuldlos.«
Hierauf habe er sogleich die Muster der Lebensweisen vor sie auf den Boden gestellt in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden. Da hätte es denn allerlei gegeben: Lebensweisen von allen Tieren und auch, versteht sich, alle menschlichen. Darunter hätten sich nun unumschränkte Tyrannenherrschaften befunden, zum Teil lebenslängliche, zum Teil auch solche, die mitten im Leben verloren gehen und mit Armut, Verbannung und mit dem Bettelstab endigen. Auch hätten sich darunter befunden Lebensweisen von wohlangesehenen Männern teils durch Gestalt, Schönheit und außerdem durch körperliche Stärke und Kampftüchtigkeit, teils ihrer Geburt und der Vorzüge ihrer Ahnen wegen; ferner ebenfalls Lebensweisen solcher, die in den genannten Rücksichten unansehnlich waren, und ebenso habe es sich mit den Weibern verhalten. Eine Seelenrangordnung habe aber nicht dabei stattgefunden, weil es eine unbedingte Notwendigkeit ist, daß eine Seele, welche eine andere Lebensweise wählt, auch eine andere wird. Im übrigen seien die Lebensweisen durcheinander gemischt und teils mit Reichtum oder Armut, teils mit Krankheit, teils mit Gesundheit verbunden; manche lägen auch zwischen den genannten Zuständen in der Mitte.
Darum muß man eisenfest an dieser Meinung hängen, bis man in die andere Welt kommt, und darf auch dort von Reichtum und dergleichen Übeln nicht sich erschüttern lassen; ingleichen muß man auch auf seiner Hut sein, daß man nicht auf Tyrannenherrschaften und sonstige Geschäfte der Art verfällt und dadurch viele unheilbare Übel verübt, sich selbst aber eben dadurch noch weit größere zuzieht. Man verstehe vielmehr in Beziehung auf jene Lebensbeschäftigung die mittlere Laufbahn zu wählen und sowohl in diesem Leben hier als in dem ewigen der Zukunft die Extreme an beiden Seiten nach Kräften zu vermeiden; denn so wird ein Mensch am glücklichsten.
Nachdem nun alle Seelen so ihre Lebensweisen gewählt hatten, so seien sie in der Ordnung, wie sie gelost hätten, zur Lachesis geschritten; jene habe nun einem jeden den Genius der von ihm erwählten Lebensweise zum Beschützer seines Lebens und zum Vollstrecker seiner Wahl mitgeschickt. Dieser Genius habe nun seine Seele zunächst zur Klotho gebracht und unter ihre den Wirbel der Spindel treibende Hand geführt, um das Geschick, welches jene gelost, zu befestigen. Nachdem er diese berührt hatte, habe er seine Seele alsbald zur Spinnerei der Atropos geführt, um ihren angesponnenen Faden unveränderlich zu machen. Von hier sei er nun stracks unter den Thron der Notwendigkeit getreten. Und als er nach dem Vorgange der übrigen durch diesen hindurchgegangen wäre, seien sie sämtlich durch furchtbare Hitze und Stickluft hindurch auf das Feld der Vergessenheit gekommen. Da sei nun nichts von Bäumen und allem dem gewesen, was die Erde trägt. Hier hätten sie sich nun nach schon angebrochenem Abend an dem Flusse Sorgenlos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß zu halten vermöge. Notwendig müßten nun freilich alle ein gewisses Maß von diesem Wasser trinken; die aber durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tränken über jenes Maß, und wer immerfort davon tränke, der vergesse alles. Nachdem sie sich nun niedergelegt hatten und Mitternacht gekommen war, sei ein Ungewitter und ein Erdbeben entstanden, und plötzlich seien sie dann wie Sternschnuppen der eine dahin, der andere dorthin gefahren, um ins Leben zu treten. Er selbst habe nun nicht von jenem Wasser trinken dürfen; aufweiche Art und Weise er jedoch wieder in seinen Körper gekommen sei, das wisse er nicht, sondern nur so viel, daß er des Morgens auf einmal die Augen aufgemacht und sich auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden habe...

II. Poimandres

Ausschnitt aus dem ersten Buch des "Corpus Hermeticum", einer Sammlung von siebzehn theosophischen Schriften, Ende 3. Jahr­ hundert nach Christus
Eines Tages, als ich gerade begonnen hatte, über das Seiende nachzudenken und mein Denken sich anschickte, in die Höhe zu schweben, während meine körperlichen Sinne abgeschnürt waren, schien es mir, als wenn mir ein Wesen von immensem Wuchs und jenseits aller messbaren Größe entgegentrat, das mich beim Namen rief und sagte: "Ich bin Poimandres, der Nous des absoluten Höchsten. Ich weiß, was du willst und ich bin mit dir immerdar … ". Mit diesen Worten veränderte das Wesen seine Gestalt und öffnete sich mir plötzlich ganz für einen Augenblick; und ich hatte einen Ausblick ohne Grenzen, in dem alles Licht war, heiter und fröhlich; und indem ich es sah, liebte ich es leidenschaftlich. Wenig später kam von unten her eine Dunkelheit auf, überraschend auch sie, erschreckend und düster, in verschlungenen Spiralen aufgerollt war, einer Schlange ähnlich, wie mir schien. Dann verwandelte sich diese Dunkelheit in eine Art von Feuchtigkeit, die auf unerklärliche Weise geschüttelt wurde und einen Dampf ausströmte, wie ihn ein Feuer hervorbringt, und dabei eine Art Laut produzierte, ein unbeschreibbares Stöhnen. Darauf entquoll ihm ein urartikulierter Schrei, den ich der Stimme des Feuers verglich ……
Währenddessen ging von dem Licht … ein heiliges Wort aus, das die Natur bedeckte, und ein reines Feuer erhob sich aus der Feuchtigkeit in die Höhe bis an die Region des Erhabenen; es war leicht und lebhaft und gleichzeitig voller Tatkraft; und die leichte Luft folgte dem feurigen Hauch, erhob sich von der Erde und dem Wasser hin zum Feuer derart, daß sie ans Feuer angehängt schien … …
"Dies Licht", sagte er, "das bin ich, Nous, dein Gott, der vor der Feuchtigkeit da war und aus der Dunkelheit hervorgegangen ist. Und das leuchtende Wort, das aus dem Nous hervortrat, ist der Sohn Gottes … Du hast im Nous den Archetypus gesehen, das Prinzip, das allem Anfang ohne Ende vorausgeht". So sprach Poimandres zu mir.
"Aber woraus denn", fragte ich, "sind die Elemente der Natur hervorgegangen?" - Darauf antwortete er: "Aus dem Willen Gottes. Nachdem er das Wort in ihr empfangen und den schönen Archetyp der Welt gesehen hatte, bildete er sie diesem Bilde nach und formte sie, daß sie eine geordnete Welt sei, angemessen ihren eigenen Elementen und ihren eigenen Werken, den Seelen. Doch Nous-Gott, der männlich-weiblich ist und als Leben und Licht existiert, brachte mit einem Wort einen zweiten Nous­ Demiurgen hervor, der der Gott des Feuers und des Atems ist und die Herrschenden formte, sieben an der Zahl, die in ihren Wirkungskreisen die Welt der Gefühle einschließen; und ihre Herrschaft nennt sich das Schicksal.
Auch erhob sich das Wort Gottes über die Elemente, die sich unterhalb dieser reinen Region der Natur aufhalten, die aber auch geformt wurden; und er verband sie mit dem Nous-Demiurgen (weil er vom gleichen Stoffe war), womit die niederen Elemente der Natur sich selbst überlassen blieben, bar jeder Vernunft und nichts anderes seiend als simple Materie.
Indessen nahm der Nous-Demiurg gemeinsam mit dem Wort die Kreise, brachte sie dröhnend zum Drehen und setzte damit die Kreisbewegung seiner Kreaturen in Gang, ließ sie ihre Drehung von einem unbestimmten Anfang zu einem Schluss ohne Ende machen; denn sie beginnt, wo sie endet. Und dieses Drehen der Kreise brachte nach dem Willen des Nous aus den Elementen am unteren Ende Tiere hervor ohne Vernunft (denn das Wort war nicht mehr in ihrer Nähe), die Luft brachte geflügelte Tiere hervor und das Wasser schwimmende Tiere. Die Erde und das Wasser wurden nach dem Willen des Nous voneinander getrennt, und die Erde ließ aus ihrem Schoß Tiere hervorgehen, Vierbeiner und Reptilien, wilde Tiere und zahme Tiere.
Und der Nous, der Vater aller Wesen, der Leben ist und Licht, schuf einen Menschen, der ihm ähnlich war und den er liebte wie sein eigenes Kind. Und der Mensch war sehr schön und ein Abbild seines Vaters: denn es war wahrhaftig seine eigene Gestalt, in die der Gott sich verliebte, und er übergab ihm alle seine Werke. Und als er die Schöpfung bemerkte, die der Demiurg im Feuer geformt hatte, wollte der Mensch ebenfalls ein Werk schaffen, und der Vater gab ihm dazu die Erlaubnis. Nachdem er also in die Sphäre des Demiurgen eingerückt war, wo er die volle Macht haben sollte, nahm er die Werke seines Bruders wahr, und die Herrschenden begannen ihn zu lieben und jeder ließ ihn teilhaben an seiner Herrschaft. Alsdann wollte er, nachdem er ihr Wesen durchschaut hatte und Teil ihrer Natur geworden war, über die Peripherie der Kreise hinaus vorstoßen und die Macht dessen kennenlernen, der über das Feuer regiert.
Also durchbrach der Mensch, der die volle Macht, über die Welt der toten Wesen und der Tiere ohne Vernunft erlangt hatte, die Schutzhülle der Sphären und er zeigte sich der Natur dahinter in der herrlichen Gestalt Gottes. Als die Natur ihn, der in sich die unbeschreibliche Schönheit und die ganze Energie der Herrschenden mit der Gestalt Gottes vereinigte, gesehen hatte, lächelte sie vor Liebe, denn sie hatte die Züge dieser über alle Herrlichkeit schönen Gestalt des Menschen sich im Wasser spiegeln und seinen Schatten über der Erde gesehen. Er seinerseits liebte auch sie, nachdem er die ihm gleiche Gestalt im Wasser gespiegelt und damit in der Natur gegenwärtig gefunden hatte, und wollte in ihr leben. Im Augenblick, da er es wollte, war es ihm auch schon gewährt, und er ging, die Form ohne Vernunft zu bewohnen. Alsdann nahm ihn die Natur als ihren Geliebten in sich auf, da sie vor Liebe brannten.
Und das ist der Grund, warum unter allen Wesen, die auf der Erde leben, der Mensch allein beides ist, sterblich durch seinen Körper und unsterblich durch sein Menschwesen. Aber wenngleich er tatsächlich unsterblich ist und die Macht über alle Dinge besitzt, ist er dennoch dem Zustand der Sterblichen gleich, indem er dem Schicksal unterworfen ist; dadurch ist er, wie hoch er auch immer über der Schutzhülle der Sphären stehen mag, ein Gefangener in dieser Hülle.. . . . .

III. Jean Paul: Traumerzählung aus "Siebenkäs"

Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien, und das sein eigener Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.
Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: "Christus, ist kein Gott?“
Er antwortete: "Es ist keiner.“
Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so weit das Sein seine Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: "Vater, wo bist du ?" Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Westen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt, und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: "Jesus, haben wir keinen Vater?" - Und er antwortete mit strömenden Tränen: "Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater."
Da kreischten die Misstöne heftiger - die zitternden Tempelmauern rückten auseinander - und der Tempel und die Kinder sanken unter - und die ganze Erde und die Sonne sanken nach - und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei - und oben am Gipfel der unermesslichen Natur stand Christus und schauet in das mit tausend Sonnen durchbrochene Weltgebäude herab, gleichsam in das um die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet, so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermesslichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? - Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? - Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir. -
Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte, sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte - und die Ringe fielen nieder, und sie umfasste das All doppelt - dann wand sie sich tausendfach um die Natur - und quetschte die Welten aneinander - und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesackerkirche zusammen - und alles wurde eng, düster, bang - und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern ... als ich erwachte.

IV. Robert P. Kirshner: Supernovas in anderen Galaxien.

Eine repräsentative Supernova vom Typ II, durch gute Daten belegt, ist SN 1970g, deren Explosion im Spätjahr 1970 in der Galaxie M 101 zu beobachten war. Spektro-photometrische Untersuchungen ihres Spektrums zeigen, dass ihr Evolutions­ Prozess sich über Monate erstreckte. In den Anfangsphasen der Explosion entsprach die Gesamtverteilung der Energie dieses Sterns weitgehend der gleichmäßigen Energieverteilung, wie sie für einen theoretischen Schwarzen Himmelskörper bei einer Temperatur von 12.000 Grad Kelvin charakteristisch ist. Der Halbmesser von SN 1970g betrug: 3 x 1014 Zentimeter, ein Radius entsprechend dem der Umlaufbahn des Planeten Uranus.
Nachdem der Radius einer Supernova bekannt ist, lässt sich auch ihre absolute Helligkeit bestimmen. Für SN 1970g betrug die Luminosität 1042 erg pro Sekunde, das Einmilliardenfache der Helligkeit der Sonne. Was noch interessanter ist: die durch Spektrophotometrie und herkömmliche Breitbandphotometrie gewonnenen Daten ermöglichen es, die Radiusveränderungen der Supernova im Verhältnis zur Zeit zu berechnen. Über rd. 30 Tage nach der Erstexplosion des Sternes dehnt sich der Radius der Oberfläche, von der das sichtbare Licht abgestrahlt wird, mit einer fast konstanten Geschwindigkeit von 5000 Kilometern in der Sekunde aus. Nach Ablauf dieser Zeit hat die Photosphäre oder sichtbare Oberfläche des Sterns einen Radius von rd. 2 x 1015 Zentimetern erreicht - weit größer als der Radius des Sonnensystems. Mit der Ausdehnung der Photosphäre geht ein Absinken der Temperatur auf etwa 6000 Grad Kelvin einher. Nach Erreichen ihrer Maximalausdehnung ist die Photosphäre, die bis dahin undurchsichtig war, so dünn, dass sie allmählich transparent wird. Damit beginnt der scheinbare Radius des Sterns zu schrumpfen, und so kommt es zum raschen Abfall der Lichtkurve einer Supernova vom Typ II.
Die Modell-Supernovas haben zwei höchst bedeutsame Eigenschaften, die gut mit den Eigenschaften beobachteter Supernovas übereinstimmen. Erstens zeigen Berechnungen, dass ausgedehnte rote Super-Riesensterne schon so groß sind, dass sie sich bei ihrer Expansion bis auf die ungefähre Größe des Sonnensystems nicht wesentlich abkühlen. Zweitens handelt es sich bei dem Inneren eines ausgedehnten roten Super­ Riesensterns um einen weiten Bereich von fast konstanter Dichte, so dass eine Explosion im Zentrum des Sterns ihre Energie wirksam bis an die Oberfläche weiterzuleiten vermag. Daher lässt sich aufgrund des Modells voraussagen, dass die im Sternzentrum freigesetzte Energie als die tatsächlich an der Oberfläche einer Supernova beobachtete Hitze und Bewegung in Erscheinung treten kann. Weiter lässt sich aufgrund des Modells voraussagen, dass die Supernova an ihrer Oberfläche eine Temperatur von etwa 10.000 Grad Kelvin hat und sich kurz nach Erreichen ihrer maximalen Helligkeit mit einer Geschwindigkeit von etwa 5000 Kilometern in der Sekunde ausdehnen wird. Die Tatsache, dass die auf Modelle von Sternen, mit deren Explosionen wahrscheinlich zu rechnen ist, gestützten Berechnungen so weitgehend mit den Beobachtungen tatsächlich explodierender Sterne übereinstimmen, ist ermutigend. Umgekehrt bedeutet die Tatsache, dass die Übereinstimmung sich aus Erwägungen ableitet, die mit der Struktur des Sterninnern zu tun haben, und nicht aus Berechnungen der Einzelheiten der Explosion, dass spektrophotometrische Daten einer Supernova während des ersten Explosionsmonats wenig unmittelbaren Aufschluss über die Quelle der im Sternkern freigesetzten Energie geben können.

V. THE INFINITE

Let man then contemplate the whole of nature in her full and lofty majesty, let him turn his gaze away from the lowly objects around him; let him behold the dazzling light set like an eternal lamp to light up the universe, let him see the earth as a mere speck compared to the vast orbit described by this star, and let him marvel at finding this vast orbit itself to be no more than the tiniest point compared to that described by the stars revolving in the firmament. But if our eyes stop there, let our imagination proceed further; it will grow weary of conceiving things before nature tires of producing them. The whole visible world is only an imperceptible dot in nature's ample bosom. No idea comes near it; it is no good inflating our conceptions beyond imaginable space, we only bring forth atoms compared to the reality of things. Nature is an infinite sphere whose centre is everywhere and circumference nowhere. In short it is the greatest perceptible mark of God's omnipotence that our imagination should lose itself in that thought.
… … vollständiger Text siehe Penguin Books!

Blaise Pascal
excerpt from Pensées
English translation by A. J. Krailsheimer, Penguin Books


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