Zur Interpretation mehrkanaliger elektroakustischer Werke
auf Lautsprecherorcherstern -
einige Gedanken zu GRM-Acousmonium und BEAST

Das Festival Inventionen hat 2000 zum wiederholten male ein Lautsprecherorchester in die Parochialkirche Berlin eingeladen. 1996 war es das Acousmonium der GRM Paris, dieses mal das BEAST von Jonty Harrison aus Birmingham. In beiden Fällen wurden die Lautsprechersysteme durch eine Anzahl von Meyer-Lautsprechern aus dem TU-Studio ergänzt. Offizielle Begründung der Mischung der Systeme: die Mayer-Lautsprecher sind für die Wiedergabe der mehrkanaligen Werke vorgesehen. Es ist genau dieser Punkt, der mich zum Schreiben einiger Linien veranlaßt.

Historisch sind die Lautsprecherorchester als Wiedergabesysteme von Stereowerken entstanden. Das umfangreichste Instrument, auf dem ich zahlreiche Werke interpretieren konnte, ist das Acousmonium des GRM. In der ersten Hälfte der 70er Jahre durch François Bayle konzipiert, gruppiert es unterschiedlichste Typen von Lautsprechern zu einer imposanten räumlichen Aufstellung.

Der Ausdruck Orchester ist nicht nur wegen der räumlichen Aufstellung, sondern viel mehr auch wegen der unterschiedlichen Register und Qualitäten der einzelnen Instrumente zutreffend. Jedoch ist die Aufstellung beim GRM-Acousmonium nicht fixiert. Sie variiert von mal zu mal und selbst im Saal "O.Messiaen" in Paris, wo die regelmäßige Konzertserie stattfindet, wird jedesmal wieder die Aufstellung variiert und neu experimentiert. Die zahllosen Konzerte innerhalb von 30 Jahren haben genau belegbare Vor- und Nachteile bestimmten Aufstellungen zu Tage gebracht - doch was ist daran objektiv ?

Jeder Komponist hat seine Idealvorstellungen vom Klang eigener Werke. Ist es das Klangbild des Studios, in dem das Stück entstand oder ist es ein imaginäres, nicht erreichbares Klangbild? Ist es von einem bestimmten technischen Standart,  wie z.B. von der Qualität von Bandmaschinen, Studiotechnik, Lautsprechern geprägt? Ändert es sich mit dem Wandel seiner Ästhetik? Ist es ein symmetrisches oder absichtlich unsymmetrisches Klangbild. (Letzteres ergibt einige Vorteile, da die Symmetrie doch nur für einen kleinen Teil des Publikums, das zentral plaziert ist, zutrifft.)

Genauso variantenreich, wie die Auffassungen über Klangqualität sein können, sind auch jene über die besten "Kompositionen" einer Lautsprecheraufstellung.

Sicher hat für viele Komponisten die konkrete Arbeit am Klangobjekt, sein ständiges Überprüfen, Verfeinern und Annähern an die eigene Vorstellung, sowie die scheinbar 100%ige Reproduzierbarkeit desselben die Möglichkeit einer Interpretation nach und nach ausgeschlossen.

Schon der Schritt, eine Stereokomposition auf einem Lautsprecherorchester wiederzugeben, dessen Einzelpaare nicht immer dem eigenen Klanggeschmack entsprechen und wo es darum gehen muß, günstige Kombinationen zu finden, wird als Hürde zur Interpretation empfunden.

Umsomehr, da es für den Einsteiger eine ganze Menge an technischen Dingen zu integrieren gibt, die ihn eventuell von einer wirklichen Interpretation eher abhalten.

Was nötig wäre: eine Ausbildung für Klangregie und Interpretation elektroakustischer Musik. Mehrfache Workshops und die Teilnahme am internationalen Wettbewerb für Interpretation dieser Musik in Brüssel im Oktober 2000 haben dieses Defizit ganz deutlich gezeigt. Ich bin davon überzeugt, daß wir jetzt an einen Punkt kommen, wo Komponisten die Wiedergabe ihrer Werke in die Hände von spezialisierten Interpreten geben sollten. Spezialisiert nicht nur in der Technik, sondern vor allem in der Interpretation.

Doch was ist Interpretation elektroakustischer Werke? Die Diskussionen um dieses Thema finden schon allein innerhalb von Paris zwei völlig unvereinbare Standpunkte: Ircam und GRM. Am Ircam macht  man erst sehr zaghafte Schritte in Richtung einer Interpretation von aufgezeichneten Klängen. Meistens werden während der Probe Lautstärkeniveaus gefunden, die während des Konzertes exakt wiedergegeben werden (kaum einer eventuellen Akustikänderung Rechnung tragend - und schon gar nicht die Möglichkeit einschließend, die Stimmung im Saal oder das Gefühl eines Interpreten zuzurechnen).

Im GRM scheint dies das Gegenteil. Dort ist es absolut keine Grundsatzfrage - eher ein praktisches Problem. Man braucht Zeit, um das System kennenzulernen.

Die verschiedenen Klangcharaktere und Richtcharakteristiken der Lautsprecher müssen entdeckt werden. Der Interpret muß sich ebenfalls mit der jeweiligen Saalakustik vertraut machen und die Klänge der Komposition dementsprechend auf die Lautsprechergruppen verteilen. Es geht bei der Interpretation also nicht in erster Linie um eine Verräumlichung der Musik und um die Erfindung von Bewegungen.

Die vorhandenen Klangräume der Komposition werden in den reellen Raum übertragen, ihre dynamischen und räumlichen Wechsel an die Dimensionen des Saales anpaßt und die kompositorischen Gesten und Kontraste unterstrichen. Es geht um ein "Vergrößern" der kompositorischen Struktur.

Dies ist lediglich möglich, wenn der Interpret die Komposition auswendig kennt.

Dies ist eine Kritik an (renommierte) Festivals, wo die Interpreten oft aus Mangel an Probenzeit die Werke während des Konzertes zum ersten mal hören - welche Art von Interpretation ist dann noch möglich? Sie versuchen irgendwie dem Stück hinterherzurennen und irgendetwas zu machen, das so klingt als ob . . . Für die Hörer stellt sich ein sehr unbefriedigendes Erlebnis ein, das die Anwendung des Lautsprecherorchesters selbst vollkommen in Frage stellt. Zurück nach Berlin, wo dies zum Glück nicht der Fall war.

Das BEAST ist ein kleineres System als das GRM-Acousmonium. Man könnte es also eher mit einem Kammerorchester vergleichen. Es gibt zwei markante Unterschiede: die Lautsprecheraufstellung beim BEAST ist festgelegt. Sie haben bestimmte Rollen (und Namen). Daraus ergibt sich ein praktischer Vorteil: man findet auf dem Mischpult immer wieder die gleichen Zuordnungen. Der Vergleich mit einem Instrument liegt also etwas näher, als beim GRM-Acousmonium, wo – der Lautsprecheraufstellung folgend - auch die Kanalzuordnungen auf dem Mischpult jedesmal neu sind.

Der zweite Unterschied ist in der Qualität der Lautsprecher zu finden. Das BEAST ist meiner Ansicht nach ausgewogener im Gesamtklang, als das GRM-Acousmonium. Es hat nicht die Klangkraft des Pariser Systems, ist aber für Feinheiten und subtile Arbeit am Klang besser geeignet. Man erreicht diese Qualitäten auch mit dem GRM-Acousmonium, aber erst nach wesentlich längerer Probenzeit.

Aber auch das BEAST ist für die Wiedergabe von Stereowerken konzipiert.

Was passiert nun, wenn man mehrkanalige Werke über solch ein System abspielt?

Der fundamentale Unterschied zwischen Stereo- und mehrkanaligen Werken ist die Virtualität oder Realität der dritten Dimension. Selbstverständlich kann man auch mit zwei Lautsprechern einen Klangeindruck von Tiefe schaffen (also über die links-rechts-Beschränkung hinausgehen). Aber der reelle Qualitätssprung von Raumbehandlung geschieht beim Wechsel zu vier komponierten Quellen. Es ist an diesem Punkt, wo die Konzeption des zu komponierenden Raumes sich radikal verändert. Werden dann weitere Lautsprecher hinzugekommen, sechs, acht, sechzehn etc. ist mit Sicherheit eine homogenere, variantenreichere Abbildung des Raumes möglich, aber der konzeptuelle Unterschied ist nicht so enorm wie der Sprung von zwei auf vier. Ich spreche hier natürlich von der Komposition einer bestimmten Anzahl von Quellen und nicht von der Wiedergabe von Stereowerken auf mehreren Lautsprechern.

Komponiert man also diese dritte Dimension im Studio, können Bewegungen im Gesamtraum eine strukturelle, emotionale, narrative etc. Funktion bekommen, die der Komponist genauso wiedergegeben wissen will. Hinten und vorn ist eventuell nicht mehr vertauschbar; es wird wichtig, daß alle Hörer das Werk in dieser Konfiguration erleben. Die genaue Aufstellung der Lautsprecher wird vorgedacht und bereitet bei der Realisierung von Konzerten oft Kopfzerbrechen; vor allem wenn es darum geht, von einem sehr spezifischen Konzept zu einem anderen zu wechseln, ohne das ganze System umzuräumen.

Aber es kommt noch ein anderer Gesichtspunkt hinzu, der die Wiedergabe mehrkanaliger Werke in Lautsprecherorchestern für viele schwierig macht:

die mehrkanaligen Kompositionen sind fast alle für ein homogenes Ensemble von Lautsprechern komponiert. Bewegt sich der Klang von einem zum anderen, möchte man während dieses Wechsels keine Klangveränderung. Selbige tritt aber auf, wenn man den Klang innerhalb des BEAST oder GRM-Acousmoniums von einem zum anderen Lautsprecher bewegt.

Insofern ist eine Kombination von einem homogenen Kreis aus 8 Meyer-Lautsprechern und den Systemen aus Paris bzw. Birmingham ein sehr guter Kompromiß. Er läßt die Möglichkeit, beiden ästhetischen Richtungen ein adäquates Instrument zur Verfügung zu stellen und sogar mehr: dem BEAST gab es ein wenig mehr Kraft für energiereiche Passagen, ohne die filigranen Möglichkeiten zu überschatten.

Die letzten Zeilen sollen meine ganz persönliche Weise beschreiben, wie ich mit diesem "kombinierten System" umgegangen bin, da es meinen eigenen Vorlieben für ein mehrkanaliges Lautsprechersystem bisher am nächsten kam.

Schon im April 2000 konnte ich auf dem ungefähr gleich großen Motus-Acousmonium in Paris ein Konzert mit mehrkanaligen Werken realisieren. Für selbiges, wie auch für das Konzert in der Parochialkirche entschied ich mich, vierkanalige Abmischungen wiederzugeben (auch wenn die Originale achtkanalig waren). Die vierkanalige Version enthält immer noch einen Großteil des reell komponiertes mehrkanaligen Raumes, benötigt aber nur 4 gleichwertige Lautsprecher zu ihrer Abbildung.

Somit ist die erste Phase der Probenarbeit die Suche nach Vierergruppen, die jeweils ein mögliches akustisches Bild, ein möglicher akustischer Blick auf das Werk sein könnten. Im Anschluß ist es dann die Suche nach deren Kombinationen und Übergängen.

Anstatt, wie bei einer Stereoquelle das zweikanalige Bild in den Raum zu übertragen, arbeite ich mit einem vierkanaligen Klangraum. Doch es gibt kein ideales Klangbild. (Das Studio, in dem das Werk entstand, ist nur eine Klangmöglichkeit - und noch dazu eine relativ begrenzte).

Mein Suchen geht nach Blickwinkeln, Einsichten in das Werk, die im Moment des Konzertes mit dem komponierten Klangraum arbeiten. Sie nehmen ihn für gegeben, für strukturiert aber nicht für die dogmatische, einzige Möglichkeit.

Und in dieser Hinsicht war für mich die Kombination beider Philosophien - Klangvariabilität mit einer Vielzahl von Lautsprechern und homogener Lautsprecherkreis - ein sehr inspirierendes Instrument, das meiner Spiellust entgegenkam und viele Möglichkeiten öffnete, die weder das eine noch das andere System allein gehabt hätten.

Hans Tutschku, Mai 2001