akusmatisches Konzert 1

Freitag, 8. July

19 Uhr


Annette Vande Gorne

Annette Vande Gorne wurde 1946 in Charleroi (Belgien) geboren. Nach Abschluss ihres Studiums am Konservatorium in Mons und Brüssel entdeckte sie während eines Ferienkurses in Frankreich die Akusmatik. Dank der Werke von François Bayle und Pierre Henry war von dem revolutionären Charakter dieser Kunst schnell überzeugt. Sie begann Musikwissenschaft an der Freien Universität in Brüssel und Elektroakustische Komposition bei Guy Reibel und Pierre Schaeffer am Conservatoire National Supérieur de Paris zu studieren. Sie ist Gründerin und Leiterin des Studios „Musiques & Recherches“ mit dem Elektronischen Studio „Métamorphoses d'Orphée“. Sie organisiert ein Konzertzyklus sowie das internationale akusmatische Festival " Espace du son " in Brüssel. Sie gibt die Zeitschrift für Musikästhetik „Lien“ heraus sowie „ElectrO-CD“, einen elektroakustischen Werkkatalog. Sie lehrte Elektroakustische Komposition in Lüttich (1986), Brüssel (1987) und Mons (1993).

 

Space Figures

Study for spatialization

To Claude Lenners

Acousmatic work, 2004, stereo, 12’40

Raum, luftig oder gesperrt, bewegt oder stillgestellt; Kontraste, Materialien und Bewegungen aus Farben… aber was heißt das eigentlich: „Raum“?
In jedem Satz ist hier vom Interpreten am Mischpult eine „Seelenverwandtschaft“ gefordert, eine gewisse Virtuosität.
Das Stück steht in der Tradition von Studie und Präludium des klassischen Repertoires; es ist gedacht als instrumentale Geste, wie Raumfiguren, die eine gestische Reaktion des Interpreten hervorrufen. In einem Konzert zu hören…


Jacques (Diego) Losa

Jacques Diego Losa, 1962 in Buenos Aires geboren, studierte Musik in Argentinien (Querflöte, Saxophon und Tonsatz). Außerdem besuchte er Kurse zu neuen Techniken musikalischer Analyse und erhielt ein Zertifikat für Orchesterspiel. Anschließend spezialisierte er sich auf die technische Klangerzeugung und erlangte Expertise im Umgang mit den entsprechenden Geräten/Verfahren. Er war mit der Digitalisierung der Original-Werke am GRM betraut, führte Regie in Konzerten und assistierte eingeladenen Komponisten. Bevor er sich in Frankreich 1996 niederließ, war er im technischen Team des Laboratoire de Recherche et de Production Musicale der Buenos Aires, Regisseur am Theater und Kulturzentrum der Stadt Buenos Aires und er unterrichtete die Techniken elektroakustischer Komposition an der Universität von Cordoba und Rosario Santa Fe. Er hat Musik für Tanz und Zirkus komponiert

(u.a. Ici, là?, die Kompagnie Dans de beaux draps im Rahmen des 2. Festivals für zeitgenössischen Zirkus, 2001). Außerdem ist er als Interpret in Konzerten traditioneller südamerikanischer und elektroakustischer Musik aufgetreten sowie in Jazz-Formationen.

 

Crónicas del tiempo

2004, 17 Minuten

Nach Ciudad, dem ersten Auftragsstück des GRM und Erinnerung an eine unvollendete Reise, ist dieses Stück eine akustische Transkription von Erinnerungsstücken aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Reisenden. Die Musik offenbart Vorstellungsbilder eines Individuums, überblendet vom kollektiven Gedächtnis eines Landes. Das Mehrkanal-Stück, komponiert und wiedergegeben mit 5.1, ist eine Arbeit über das Unbewusste, eine Reflexion der Gefühle, die beim Hören der Originalklänge der Stadt Buenos Aires entstehen, die zu unterschiedlichen Zeiten (1980-1996) aufgenommen und später mit den GRM-Tools bearbeitet wurden.


Patrick Kosk

wurde 1951 in Helsinki geboren. 1976-81 studierte er am Studio für elektronische Musik an der Universität Helsinki. 1981-91 war er als freischaffender Komponist und Sound-Designer am Experimentalstudio des finnischen Rundfunks tätig. Er war 1992 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Seit 1992 arbeitete Kosk in verschiedenen Studios, u.a. an der Technischen Universität Berlin, im EMS in Stockholm, im Computermusik Studio der Sibelius-Akademie in Helsinki, am INA·GRM in Paris; seit 1998 nutzt er sein eigenes Studio. Kosk setzt sich seit Beginn seiner Laufbahn mit elektroakustischer Musik sowohl in ausschließlich elektroakustischen Stücken als auch in Verbindung mit anderen Medien (Drama, Radiophonie, Performance, Tanz, Kurzfilm, Videokunst) auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen u.a.: Prix Cime 1985 (für Nebula Prospekt), Grand Prix de Bourges 1999 (für IceBice, Auftragswerk der Inventionen 1998), Varèse-Wettbewerb, Prix Italia.

Das Kästchen & Tripitaka 

2005, 9:50 Minuten | UA | Auftragswerk der Inventionen

 Im Verlauf der Komposition brachte mich ein Teil des Klangmaterials ziemlich durcheinander und führte den Fortgang der Arbeit in eine ganz andere Richtung als geplant. Die Geschichte oder Idee, die hinter dem Titel steckt, ging dabei verloren und ist nun für das Stück eigentlich ohne Bedeutung.

Eine kurze Einführung in die Komposition: Ebenen mit Punkten und verschiedenem Material, ein bisschen Chaos, das sich in eher vereinzelte Klänge auflöst.


Francis Dhomont

Francis Dhomont wurde 1926 in Paris geboren, studierte bei Ginette Waldmeier, Charles Koechlin und Nadia Boulanger. Erste Versuche mit der Tonbandtechnik machte er bereits Ende der Vierziger Jahre, seit 1960 komponiert er ausschließlich elektroakustische Werke. Er war Gründungsmitglied und später Präsident des Festivals „Musiques – Multiples” in Sant-Rémy de Provence (1975-79). Er zog nach Québec um, wo er von 1980-96 an der Université de Montréal Elektroakustische Komposition lehrte. Seit über 20 Jahren widmet sich Dhomont neben seinen kompositorischen Aktivitäten auch der Vermittlung zwischen französischen und kanadischen Kompositionstraditionen akusmatischer Musik. Dhomont erhielt zahlreiche Preise, darunter erster Preis Bourges 1981, Magisterium Bourges 1988, Prix Ars Electronica 1992, Prix Lynch-Staunton du Conseil des Arts du Canada 1997, zahlreiche Werke standen in der Auswahl der „World Musik Days“ für die ICMC und die ISEA. 1997 war Dhomont Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.

Einige seiner Werke:

Sous le regard d'un soleil noir, Points de fuite, Chiaroscuro, Novars, Espace/escape, Lettre de Sarajevo, Forêt profonde, CPH Pendler Music, Frankenstein Symphony, En cuerdas, AvatArsSon, Phonurgie, Les moirures du temps,  Vol d’arondes, Un autre Printemps, Corps et âme, Here and There, Voyage-miroir, Je te salue, vieil océan!, Brief an den Vater, Reflejos (multi-media).

Voyage-miroir  (Voyage-mirror)    

2004; 14:50 Minuten

 To Robert Normandeau, the friend and the composer

Voyage-miroir ist eine Replik von …mourir un peu (1984-87); in beiden Stücken geht es um Abfahrt, Flucht und Exil. Diese Art von Beweglichkeit betrifft mich besonders.

Ein Negativ-Abbild der Reise-Metapher wird musikalisch umgesetzt in einer Art zusammengezogenem Spiegelbild von …mourir un peu, einem Stück von 45 Minuten Dauer, dessen 10 Sätze hier ohne Unterbrechung aneinander gefügt sind, in gleicher Anordnung und in der Dauer auf ein Drittel des Originals verkürzt.

Wie …mourir un peu bezieht sich das Stück auf das Modell der Welle, das mit den erst wachsenden und dann sich verkürzenden Dauern der Teile Dynamik symbolisiert. Die fortschreitende Trägheit bis hin zum Verschwinden markiert den perspektivischen Fluchtpunkt dieser Reflexion.

Ebbe und Flut, in ewiger Wiederkehr Abbild unserer Sehnsucht, unseres Handelns, unserer Erfahrungen, unserer Hoffnungen, ja unseres Lebens und Sterbens.


Jean-Claude Risset

Komponist und Forscher, geboren 1938 in Frankreich. Wissenschaftliche und musikalische Studien (Komposition bei André Jolivet). In den 60er Jahren Zusammenarbeit mit Max Mathews; Weiterentwicklung der musikalischen Verwendbarkeit der digitalen Klangsynthese (digitale Synthese von Blechblasklängen, Tonhöhenparadoxien, Klangkatalog [1969]). Leitung der Computer-Abteilung am IRCAM (10975-1979). Auszeichnungen: Goldene Nica der Ars electronica 1987, Grand Prix National de la Musique 1990, „Magisterium“ Bourges 1998, Goldmedaille des CNRS 1999. Am CNRS Marseille tätig.

 

RESONANT SOUND SPACES

2002, 14:30 Minuten

Bei Resonant Sound Spaces (Espaces résonants) handelt es sich um eine spatialisierte Version von Resonant Soundscapes (Paysages résonants) von 2001, einem Auftragswerk der Stadt Brüssel, gewidmet Gerald Bennett. Die achtkanalig verräumlichte Fassung wurde 2002 im Studio der Groupe de Musique Expérimentale de Marseille (GMEM) angefertigt. 

Unser Hörsinn ist offenbar gut darauf eingerichtet, Klänge auf der Grundlage des allgegenwärtigen Erregung-Resonanz-Paradigmas zu ordnen. Five Resonant Soundscapes ist keine systematische Studie über das Phänomen der Resonanz; vielmehr handelt es sich bei dem Klangmaterial vorwiegend um Resonanzklänge, und zwar sowohl synthetische als auch aufgezeichnete und bearbeitete: Schlagklänge und gezupfte Saiten (freie Schwingungen angeregter Festkörper), Blechblas- und Hornklänge (erzwungene Schwingungen von Luftmassen), Resonanzfilter, Nachhall. Das Adjektiv „resonant“ hat auch eine metaphorische Bedeutung. Es meint dann die starken persönlichen Reaktionen auf bestimmte Klänge oder Klangfolgen, vor allem auf die symbolischen Konnotationen ihres scheinbaren Ursprungs – selbst wenn es sich dabei um eine Täuschung handelt.

Das Stück evoziert oder zitiert Klangelemente, auf die ich besonders stark anspreche: den Glockenklang zu Beginn von Edgard Varèses Poème électronique, gewisse von Irène Jarsky, Denise Mégevand, Michel Portal und Serge Conte gesungene oder vorgetragene Motive, die von Llorenç Barber organisierten Glockenkonzerte, Klänge aus dem Schlagwerk-Instrumentarium von Thierry Miroglio. Die Spatialisation, die „Klanglandschaften“ in „Klangräume“ verwandelt, ging von den Spuren der Pro-Tools-Session aus, d.h. von den Klangquellen vor ihrer stereophonen Abmischung. Die räumliche Verteilung der Klänge verstärkt die Tiefendimension zunächst ganz buchstäblich, dann aber auch im übertragenen Sinne: Sie unterstützt das Hören beim Sortieren der Vielfalt von Klangquellen und hilft so dem Hörer, sich das vorgegebene Klangterritorium auf seine ganz persönliche Weise zu erschließen. Aber: Sie gibt auch bestimmte Raumfiguren vor.

Das ganze Stück dauert etwa 14‘30‘‘. Die Titel der fünf Abschnitte – der fünf verschiedenen Klanglandschaften – beziehen sich auf das Klangmaterial oder die Verarbeitungsprozesse. Diese können allerdings durchaus trügerisch oder „virtuell“ sein. So wurden zum Beispiel (mit einer Ausnahme) alle „Glocken“ des zweiten Teils von Abschnitt 5 synthetisch hergestellt: kein Metall, kein Anschlag. Die Titel der Abschnitte lauten wie folgt.

1. Bell, brass, metal (2‘45‘‘). Dieser Abschnitt greift im wesentlichen auf Schallaufzeichnungen zurück, die einfach Verarbeitungsprozessen unterworfen wurden: Frequenzänderungen mit oder ohne Dauernänderung, Zeitumkehr. Zu Beginn hört man drei synthetische Varianten des Glockentons am Anfang von Varèses Poème électronique, aus einer Analyse von Vincent Verfaille. Die Spatialisation versetzt die verschiedenen Klänge an verschiedene Orte – Bewegungen von Schallquellen werden nur ausnahmsweise angedeutet.

2. Filters (2‘52‘‘). Nach von Blechbläserklängen intonierten Ruf- und Antwort-Motiven führt ein gefiltertes Echo geschichtete Klarinetten-Arpeggien ein, die einem A, einem H oder einem F entgegen streben, so zu hören vermittels eines auf bestimmte Klänge abgestimmten Satzes von Resonanzfiltern. Das Gefühl, sich im Kreis zu drehen, wird verstärkt durch angetäuschte räumliche Rotationen (beim A-Motiv im Uhrzeigersinn und bei den anderen im Gegenuhrzeigersinn). Gegen Ende bringen zwei Anschläge ein schnelles, sich flink bewegendes Flötenmotiv ins Spiel, dazu einen Vogel, der immer weitere Kreise zieht.

3. Plectra (1‘54‘‘). Dank der computergesteuerten Bewegung von Hämmern und Dämpfern kann man mit dem Selbstspielklavier vom Typ „Yamaha Disklavier“ im „Laboratoire de Mécanique et d’Acoustique“ des CNRS in Marseille vermittels direkter Einwirkung auf die Saiten, etwa mit Plektren, Klänge erzeugen. Dadurch wird das Klavier zu einer Art Harfe. Wenn man den Finger an gewissen Stellen auf den Saiten auflegt, werden bestimmte Teiltöne abgedämpft und andere verstärkt. Die Spatialisation versucht Resonanzen anzudeuten, wie sie sich auf großen Resonanzböden ausbreiten.

4. Reverberated (3‘17‘‘). Dieser düstere Abschnitt entstand in Reaktion auf den 11. September 2001. Menschenmengen, Schreie und Gelächter, Gemurmel, Becken, Chöre, Stimme, Orgel, alles innerhalb eines weiträumigen und langsam bewegten Nachhalls. Ferne Explosionen einer obskuren Katastrophe beschließen diesen Abschnitt.

5. Bell, horns (3‘40‘‘). Von Schiffssirenen durchzogen, spielt der fünfte Abschnitt an auf das Buch Les cloches de Bâle [Die Glocken von Basel]: Ein virtuelles Geläut aus synthetischen Tönen antwortet auf Schallaufnahmen und

-rekonstruktionen von tatsächlichen Glocken. Das Geläut entfaltet Strukturen, die vor 25 Jahren komponiert wurden, damals eine zeitraubende Prozedur. Heute können diese Strukturen, in Echtzeit durch einfache Gesten aufgerufen, glockenartige Klänge hervorbringen, aber ebenso gut flüssige oder springende Texturen. Die Spatialisation füllt den Raum, indem sie die Klangquellen zerlegt und in vorgetäuschten Bewegungsvorgängen dematerialisiert.

Resonant Soundscapes wurde in Marseille mit meinem eigenen G3-Laptop realisiert, unter Verwendung der folgenden Software: MaxMSP, ProTools, Sound Hack, Peak, MusicV. Einige Klänge habe ich mit dem „Yamaha Disklavier“ aufgenommen (siehe oben).

Resonant Soundscapes ist ein Stück für „Tonband“ (für Schallspeichermedium), aber es kamen gewisse Werkzeuge zum Einsatz, die die Echtzeit-Kontrolle von Klangvorgängen ermöglichen, insbesondere MaxMSP und das Disklavier. So wurden auf bestimmte „Akkorde“ abgestimmte Resonanzfilter in Echtzeit gespielt, ebenso wie die inharmonischen Glockenklänge, die ich vor vielen Jahren hergestellt habe und die jetzt in flüssige oder springende Texturen verwandelt wurden. Die achtkanalige Spatialisation – Resonant Sound Spaces – geschah auf einem G4-Computer unter Verwendung der von Laurent Pottier implementierten Software „Holophon“.

Recht herzlich möchte ich mich für die Mitarbeit von Denis Lorrain, Antonio Souza Dias, Daniel Arfib und natürlich Laurent Pottier bedanken. Vielen Dank auch an Vincent Verfaille und Jérôme Decque für ihre Hilfe.