INVENTIONEN'84                                                                                              Samstag, 11.2.1984
2. Konzert: INA-GRM II                                                                                       19:30 - 23:20 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


DENIS DUFOUR: DEUXIÈME SUITE

Dieses Stück, das ohne Vorplanung während der Arbeit an einer Theatermusik entstand, vergleicht akustische Bilder (Stimmungen, Landschaften, … ), auch natürliche und / oder künstlich fabrizierte Bilder, die in einer abstrakten Refrainstruktur kombiniert werden.
Hier bekamen Verknüpfungen ihre Bedeutung nicht nur durch die Schrift von "Energien", durch Spannungs- / Entspannungsbeziehungen etc. …, sondern in erster Linie am Spiel mit Entwurf und Raum, durch willkürliches dramatisches Voranschreiten und die Kraft von einfachen und augenfälligen Kontrasten; alles als Versuch, dem gewöhnlichen Stil und seiner Kompositionsart zu entfliehen. Rhythmus, Tonerzeugung, Phrasierung und Klangkörper können sich "nur" entwickeln, nicht aber verändern, und trotz der Kunstgriffe in der Komposition schwankt das nicht, was man "Stil" zu nennen pflegt. Diese "Suite" ist wirklich meine "Zweite Suite" nach der "Suite en trois mouvements ", die ich 1981 komponierte.


JACQUES LEJEUNE: SYMPHONIE ROMANTIQUE

Zu Beginn eine "hommage à Berlioz", aber anders als in der Variation über ein Thema, auf eine viel listigere und fundamentalere Weise, ausgehend nämlich von der eigentlichen Substanz des Materials.
Gleichzeitig Einbrüche vertrauter Musik, privilegierte Augenblicke, die, aus ihrem Zusammenhang gerissen, kraft der Gewohnheit fast natürlich geworden sind, wie ein erstaunliches Detail in einer Landschaft oder auf einer Leinwand, wie ein realistischer Ton, der sich von seiner Umgebung isoliert, Klangmomente, aus denen die unerhörte Produktion neuer Klangkörper erwuchs.
Daher tauchen ein langgehaltener Streicherklang, eine Holzbläserstelle oder ein vokaler Einsatz auf, die hauptsächlich der Symphonie Fantastique, den Nuits d'Eté und Romeo und Julia entnommen sind.
Zu allererst wurden diese Quellen koloriert und mit sich selber multipliziert, um neue Graphismen zu erschaffen: schillernde Einfügungen, Energieschübe, Arpeggi von Unterbrechungen, Phänomene der Ergiebigkeit, Knäuel aus Geschwindigkeit … .
Danach, die Erweiterungsarbeit am Computer, um einen Prozess hervorzuheben, eine Idee zu dynamisieren, eine Richtung zu präzisieren.
Schließlich, die Komposition und Orchestrierung im Studio. Die Vervielfältigung des Objekts und das Vermehren von Bildern ist für mich gleichzeitig Strukturieren von Form, Stil und Denkweise.
Zwei der drei Sätze dieser Symphonie Romantique werden heute Abend zu Gehör gebracht:
2. Satz: Romance à claire-voie
Romanze auf einem klaren Weg
(aus zwei vokalen Fragmenten und einer Serie kristalliner Schraffierungen)

3. Satz: Grand Galop à Pandemonium (Großer Galopp durch das Pandämonium,
aus einer Serie instrumentaler und choraler Zellen und einem Massenauflauf):
Bilder von Tanz, Reigen, Spektakel, Verfolgung und ständiger Bewegung


FRANCOIS BAYLE: TROISIEME PARTIE D'EROSPHERE: TOUPIE DANS LE CIEL

Dieses Nervengewebe, das unsere bewohnte Welt mit einem Netz modulierter Wellen von unendlich vielen Frequenzen umgibt, diese Wärmewolke, infra- und suprasensoriell, die von Megamilliarden biologischer Sender ausgestrahlt wird, dieser Ring, in der der Antrieb dieses Lust-Kosmos kreist, das ist die Erosphäre.
Wir leben in der Erosphäre, die Begierde ist unser Schicksal.
Die hörbar gemachten Vibrationen bilden einen stetigen Teil des allgemeinen vibratorischen Zustands, der von dem extremen Puls in tiefen Frequenzen – dem Zyklus eines menschlichen Lebens zum Beispiel – bis zur großen Hitze unheimlich gefährlicher Strahlen im kosmischen Raum reicht.
Die Gesetze der Geometrie, die wie die Wogen auf sturmbewegtem Meer in der Welt der Vibrationen zusammenstoßen, Oktavgesetze, Erzeugung von Obertönen, Tonalitäten und Phasen sind schon vorgeprägt im schmalen Bandpass der Frequenzen, die unser Ohr noch unterscheiden kann.


FRANCOIS BAYLE: TOUPIE DANS LE CIEL (Kreisel am Himmel)

Ein altertümlicher Brummkreisel mit leicht sirenenartigen Tönen erzeugt ein Bündel gekrümmter Linien durch die Energie rascher Rotationen. Verschiedene Figuren dieser Art folgen.
Eine Welle balanziert auf zwei absteigenden Moll-Terzen. Das immer gleiche und immer veränderte Balanzieren in der Tiefe schlägt in eine Myriade hoher Linien mit zunehmenden Dichte- und Mobilitätsschichten um.
Die monotone Einheitlichkeit des Satzes wird durch eine Suite von 27 Teilen erreicht, die mit unbemerkbaren Variationen des Tempos, der Höhe und Orchestration aufeinanderfolgen.
Momentweise ist das Gewebe von Himmeln mit aufgespießten kleinen Kometen durchlöchert.
Im Zentrum hakt ein langsames glissando in ferne Harmonien des Grundakkordes ein und geht am Ende in Flammen auf.
Rückkehr des schwarzen Eros. Chromatische Spiralen.
… Geräusch   …   Gräser. Silbrige Asche.

Toupie dans le ciel (Kreisel am Himmel)
Unterteilung der ca. 27 Teile {unklar}

  1. Kreisel Sirene,
  2. Thema a
  3. Thema b
  4. großer Kreisel
  5. 1. ziemlich schnelle Exposition
  6. largo und crescendo
  7. Transposition
  8. und Inversion
  9. largo und decrescendo
  10. bewegte Reprise weitläufig
  11. und crescendo
  12. decrescendo im Raum
  13. Kontergesang
  14. Thema Kreisel Insert 1
  15. großer unharmonischer Kreisel 2
  16. sehr melodisch und agil
  17. ritenuto
  18. langsam und auf zwei Pisten
  19. Thema Kreisel 3
  20. langsame Reprise auf drei Pisten
  21. Thema Kreisel 4
  22. Reprise und Erwartung
  23. Transposition siehe /3/
  24. sehr melodisch und schwingungsfähig
  25. höhere und breite Tiefe
  26. Transposition zur 3.

FRANCOIS BAYLE: LES COULEURS DE LA NUIT (Die Farben der Nacht)

Ein Zitat von einem gewissen Carlo Dossi, geb. um 1830: "Die Abbilder von allem, was geschieht, durchlaufen die Luft ... unsere Stimmen bilden unsichtbare Schichten auf dem Verputz der Mauern … "

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Ein Briefwechsel (im Juni 1929) nimmt Bezug auf das Bedauern von Breton, in einer Sondernummer der Zeitschrift VARIETES einen Text mit dem Titel "Les couleurs de la nuit " nicht mehr abdrucken zu können, um den René Magritte und Camille Goesmann gebeten wurden und der seit langer Zeit verschollen oder vernichtet ist.

*

Als ich vor einigen Jahren die Komposition "Tremblement de Terre très doux" (Sehr sanfte Erdbeben) vollendete, fand ich meinerseits den Begriff "Couleurs de la nu it" (Farben der Nacht) für das besondere Licht im Finale, ohne etwas von dem vorangegangenen Geschehen zu wissen.

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Was verloren oder zerstört ist, sollte es wirklich in der Luft weiter zirkulieren?

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Um überlegt ein Werk zu komponieren, das also mit "Iumières intérieures" wie mit "Iumières antérieures" (mit innerem wie mit längst vergangenem Licht) spielt, das gleichzeitig diese Ausdrücke und die angedeutete Idee jenes vergangenes Stückes, das ich zu Leben erwecke, aufgreift, müsste ich ein Instrument haben, das aus "tiroirs de memoires" (abrufbare Gedächtnisregister) besteht. Man könnte sie mit auffindbaren "formes" beladen, sie in jedem Sinne aus- / erforschen, umsetzen, raffen, dehnen, mit ihnen hantieren, als wenn man auf den elastischen Seiten eines Heftes aus Gummi zeichnen würde, auf Blättern, die sich beliebig durcheinander bringen ließen oder sich sogar durchqueren würden.

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In diese "cartouches" (Register) brachte ich verschiedene Wege ein, die ich folgendem Material entnommen habe:

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Während ich an alle nicht wahrnehmbaren Bilder dachte, die zwischen den Molekülen der Luft zirkulieren, las ich eines Tages folgende verlorene Zeile:

*

Sobald meine Maschinen mit Bruchstücken verformbarer Bedeutung beladen waren, fing ich an, das Ensemble meiner perzeptiven Möglichkeiten als mein ureigenes Studio zu betrachten, das ich zuerst einmal verkabeln musste im Hinblick auf ein "Aus-der-Mittelachse-bringen" der Imagination, die "leicht entzündlich" wäre.

*

Dafür konstruierte ich das klangliche Abbild eines großen Waldes, den ich lauschend betreten würde, und der durch einen sehr ausgefeilten Effekt von Räumlichkeit fähig wäre, nach Tagen aufmerksamen Zuhörens das in mir "organisieren" würde, was ich mangels eines besseren Ausdrucks "unvéritable-sentiment-de-danger-absolu", ein wahrhaftiges Gefühl absoluter Gefahr nenne.

*

Als ich diesen Wald betrat mit meinen gerüsteten Fähigkeiten, probierte ich verschiedene Wege, geriet ich in alle Fallen, beugte mich allen Riten, wurde ich einigen Erscheinungen unterworfen, wie der Verwandlung von Farben zu Raum, massivem Klang zu gekörntem Klanggewebe, der Veränderung von gekurvten Formen zu Geschwindigkeitsvoluten, von Garten zu Gebüsch, und ich gehe und gehe daran vorbei, ähnlich dem Elefanten, der durch das Nadelöhr passen muss, wie es in den alten Geschichten erzählt wird.

*

Die Nacht bringt Rat.
Die Nacht bringt vor allem Vergessen … (wäre der beste der Ratschläge etwa das Vergessen … )

*

Also, die Farben des Vergessens, "Ies couleurs de l'oubli"?

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Ich muss sagen, dass ich kaum für die Exaktheit dieser Notizen garantiere, trotzdem scheint es mir fast sicher, dass ich wirklich ihr Verfasser bin.


BERNARD PARMEGIANI: DU POP A L'ANE

Einige Worte zum Titel sollten beim Hören helfen. Im Französischen gibt es einen Ausdruck, der den Übergang von einem Subjekt oder Objekt zu einem anderen ohne großen Zusammenhang verdeutlicht: "passer du coq à I'ane" - im Gespräch zum Beispiel "vom Hundertsten ins Tausendste kommen", in Gedankensprüngen alles Mögliche einbringen. Dieses Verhalten lässt sich in viele Bereiche übertragen, wie hier in die Musik. Dieses Wortspiel weist auf die Präsenz dieser Art musikalischen Denkens hin.
Die Collage, die der Phantasie eines Augenblicks entsprang, spiegelt gleichermaßen eine Geisteshaltung wider, für die eine Einzigartigkeit durch Begegnungen entsteht, wobei es gut zu wissen ist, dass der Zufall überhaupt keine Rolle (mehr) spielt. Assoziation ist das gewichtige Element, das die Strukturen bestimmt und, musikalisch gesehen, in vielen verschiedenen Parametern erscheint: Rhythmen - Melodien - harmonischen Farben oder Sinn. Neben- oder Übereinanderlagern von Elementen sehr heterogenen Stiles schaffen Kontraste und Gegenseitigkeiten musikalischer Ordnung.
Musikstücke von etwa 20 Komponisten befinden sich geeint unter einem gemeinsamen Vorsatz. Er erstrebt nichts anderes, als Verwandtschaften zwischen den sich gegenseitig fremdesten Sprachen offenzulegen.
Vielleicht erlaubt die Popmusik "faire I'ane", Gedankensprünge "ohne Punkt und Komma" …


BERNARD PARMEGIANI: DANS DEHORS (Drinnen-Draußen)

INNERHALB DER PHASE/AUSSERHALB DER PHASE (2'29)

Folge von wiederholten Noten, die sich abwechselnd innerhalb oder außerhalb des Raumes befinden.

SPlEL (1. = 1'21; 2. = 1'31; 3. = 2'19)

Drei parallele Abfolgen, die aber von rationalen oder irrationalen Energien unabhängig sind.

RÜCKKEHR DES WALDES (2'32)

Von einer extremen Verlangsamung bis zur normalen Geschwindigkeit eines Klanges, der zum fff wird. Es handelt sich um die Metamorphose des Nicht-Identifizierbaren zum Identifizierbaren.

DRINNEN - DRAUSSEN (0'53)

Vorübergehende Aktionen in geschlossenen Räumen - in offenen Räumen, die Flügelschläge nach und nach auslöschen.

METAMORPHOSE I ( 0 ' 50)

Der Fluss des in Bewegung befindlichen Flüssigen wird starre Materie, die sich zusammenzieht und vergeht.

METAMORPHOSE II ( 6 ' 18)

Zu dem molekularen Wimmern des Wassers bildet das Knistern des Feuers einen Gegensatz - Kochen - Dampf - Druck - Luft - Atem - Ebbe und Flut und schließlich die Atmung.

FERNE NÄHE 1 (1 '04)

Knirschen = unsichtbare Anzeichen einer nahen und fernen Präsenz

FERNE NÄHE 2 (1' 13)

Die Vögel bekräftigen für uns den Raum, die Nähe, aber auch die Ferne.

FERNE NÄHE 3 (0' 54)

Ein drittes Mal sammelt ein Klang, dessen Annäherung sich spürbar bei jedem Zyklus entfernt, den Ausdruck des Individuums, die Stimme, die Stimmen, die Menge …

ERINNERUNG AN DIE STILLE (0' 56)

Die elektronischen Tromben erinnern uns an unser "Drinnen", wo die Stille wartet.

Die Metamorphose ist mit einigen symbolischen Klängen eines der Prinzipien, die auf verschiedene Weise die Abfolge dieser Suite bestimmt:
Metamorphosen
- Physikalisches: Wasser/Eis
- Durch Analogie des Sinnes oder der Formen: Atmung/ Atem, Knirschen/Vogelschreie
- Durch Analogie der Sätze, die Gegensätze wie Wasser/Feuer (z.B. in Metamorphose 2) hervorrufen
- oder durch Veränderung des (nicht identifizierbaren) Klanges und progressive Rückkehr zu einem (identifizierbaren) normalen Klang (Rückkehr des Waldes).


BERNARD PARMEGIANI: STRIES

Dieser Titel und das den drei Sätzen gemeinsame Präfix wurde von dem Stück "Violostries" (1963) entlehnt, einem Werk für Violine solo und Tonband. Die von einer Geige erzeugten Töne sind während des gesamten Werkes anwesend, zum Teil kaum wahrnehmbar und ständig verändert. Sie dringen in die horizontalen Linien (Stries) elektronischer Herkunft ein, meist eher erahnt als wahrgenommen. Die tonale Schicht, die sie bedeckt, ist Zeichen ihrer Anwesenheit. Sie schneiden die "stries", durchqueren sie vertikal in Form eines "tutti" mit langem Nachklingen. Dann werden sie von den Synthesizern des TRIO aufgenommen und der dem Trio eigenen Technik unterworfen. Schließlich spielen die "stries" mit den Synthesizern, oder diese spielen mit jenen, man weiß es nicht! Auf alle Fälle begegnen sie sich, um sich zu erkennen und in gegenseitigen Resonanzen zu sympathisieren.

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