INVENTIONEN'84                                                                                              Sonntag, 19.2.1984
12. Konzert: Warsaw Percussion Group                                                              21:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


IANNIS XENAKIS: PLEIADES

Pléiades ist eine Auftragskomposition der Oper am Rhein für die "Percussionistes de Strasbourg", geschrieben für sechs Schlagzeuger, in vier Sequenzen. Der Rhythmus ist ganz ursprünglich, in der temporalen Anordnung der Themen, der Kombinatorik der Längen, in der Intensität und den Klangfarben. Er baut sich in mehreren parallelen Feldern auf, z. T. sich überschneidend, so dass manchmal die Motive simultan verformt werden. Einige Klangfelder bauen Akzente auf, die den Grundrhythmus überlagern. Die Klangfarben der Trommeln sind den speziellen Rhythmikfeldern zugeordnet.
Die alleinige Quelle dieser Polyrhythmen liegt in der Idee der Zeitperioden, der Wiederholung, Verdoppelung, Wiederkehr, in der Genauigkeit, der Pseudo-Genauigkeit, der Ungenauigkeit. Als Beispiel: Ein Schlag, der unermüdlich mit der gleichen Kadenz wiederholt wird, stellt die getreue, genaue Wiedergabe eines rhythmischen Atoms dar (ein ganzer Takt dagegen ist ein sich wiederholendes rhythmisches Molekül). Winzige Variationen in der Kadenz nun produzieren innere rhythmische Lebendigkeit, ohne die zugrundeliegende Zeiteinheit umzustoßen. Andererseits rufen größere und komplexere Abweichungen Verschiebungen hervor, die die zugrundeliegende Zeiteinheit negieren und sie nahezu unkenntlich machen.
Darüberhinaus führen starke, komplexe Variationen durch die Zufälligkeit einer besonderen stochastischen Abfolge zum völligen Arhythmus, zum umfassenden Bewusstwerden des Moments, zu Vorstellungen von Wolken, Nebelfeldern. Schläge werden zu Staubteilchen-Galaxien, gehalten durch den Rhythmus. Die Schnelligkeit dieser Transformationen schafft neue Verformungen, die die vorangegangenen überlagern, langsam aber stetig sich beschleunigend bis zur Kulmination, der Zuhörer wird in diesen Strudel hineingezogen, als ginge es auf eine unausweichliche Katastrophe zu, in ein chaotisch sich auflösendes Universum.
Oder unendlich schnelle Tempi, die die brutalen Abbrüche der Transformationen begleiten, und die sie augenblicklich von einer Evolution zu einer gänzlich anderen führen.
In Pléiades wird die Idee der zeitlichen Verdoppelung (der Wiederkehr) einer Situation, in die unser physikalisches Universum, aber auch das Menschliche verwickelt ist, in noch einer weiteren "Dimension" der Musik aufgegriffen, nämlich in den Grundtönen. Seit der Antike hat sich die  europäische (okzidentale) Musik nicht von der Stelle gerührt. Es regiert weiterhin die diatonische Tonleiter, die Chromatik ist die Basis für das auszuwählende Notenmaterial.
Darum habe ich in Pléiades zweierlei versucht: erstens bewusst eine Tonleiter aufzubauen sowie schon in Jonchaies für Orchester – , eine "außer-okzidentale" Tonleiter, einigermaßen ausgeprägt, jedoch auf diatonischen Klaviaturen wie Marimbaphon, Xylophon und Vibraphon spielbar. Zweitens wurde ein neues metallenes Instrument, SIXXEN getauft, mit 19 unterschiedlich angeordneten Grundtönen in Viertel- und Dritteltonschritten konstruiert. Darüberhinaus sollen die 6 verschiedenen SIXXEN beim Zusammenspiel niemals unisono klingen.

 Zum ersteren habe ich eine Tonskala konstruiert, die zur großen Überraschung den Tonleitern des antiken Griechenlands, des Fernen Ostens, Indonesiens nahe kam. Diese Tonleiter, anders als die traditionelle, baut nicht auf Oktaven auf, sie besitzt eine innere Symmetrie und deckt die gesamte chromatische Abfolge in drei miteinander verknüpften Perioden ab. Dadurch wird es möglich, ohne Transkription mit dieser Tonleiter zusätzliche Harmoniefelder bei polyphonischen Überlagerungen zu erzeugen.

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